Die Logik erscheint klar. Die USA wollen sich vermehrt dem Grossraum Asien-Pazifik zuwenden. Europa muss damit mehr Ressourcen aufwenden zur Sicherung seines Umfelds im Osten und im Süden. Dies wird via EU geschehen, da mit Brexit die englische Sperrminorität gegen alle Strukturen ausserhalb der NATO wegfällt. Ob die Realität im Lichte der Ergebnisse der Gipfeltreffen in Asien und Europa (G-20 in China, Asean-Gipfel Plus in Vientiane, EU-Gipfel in Bratislava zu den Folgen von Brexit) dieser schönen Theorie folgt, ist fraglich.
Chinesische Machtsignale
Die Absicht von Präsident Obama anlässlich seiner letzten grossen Asienreise war klar. Einerseits galt es, Althypotheken abzutragen, wie die lange verleugnete Flächenbombardierung von Laos während des Vietnamkriegs. Andererseits wollte er den sicherheitspolitischen, ebenso wie den wirtschaftspolitischen Pfeiler seiner „Hinwendung zu Asien, Asia Pivot“ tiefer verankern. Dies mit entsprechendem Rückhalt für die Länder der Region gegen chinesischen Expansionismus sowie dem TTP, der Trans-Pacific Partnership, einem Freihandelsvertrag der neuen Generation mit umfassenden Erleichterungen für grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit.
Indes gelang es dem unter Xi Jinping immer selbstherrlicher auftretenden China mit allerlei populistischen Mätzchen, Obama bereits bei seiner Ankunft in Asien das Rampenlicht der Medien zu stehlen. Damit sollte wohl der eigenen Bevölkerung vorgeführt werden, dass nun auch das grosse Amerika im Reich der Mitte als Satrap wahrgenommen werden kann.
Dutartes grober Theaterdonner
Noch rüder wurde er von einem langjährigen und zentralen Verbündeten in der Asean begrüsst. Roderigo Dutarte, ein zwielichtiger Provinzpolitiker aus dem „Wilden Süden“ der Philippinen, eben auf einer populistischen Woge zum Präsidenten seines Landes gewählt, nannte Obama einen Hurensohn. Dann erklärte er am Asean-Gipfel, er „suche den Frieden mit China“, um anschliessend in wirren Worten den „Neokolonialismus“ zu geisseln. Hatte da Manila nicht eben noch, nach jahrelangem Bemühen und erheblichen politischen Kosten, vor einem der Internationalen Gerichtshöfe in Den Haag einen entscheidenden Sieg gegen völlig unbegründete Gebietsansprüche Beijings im südchinesischen Meer davongetragen?
Falls das Land unter Dutarte zur „Yankee go home“-Politik verflossener philippinscher Populisten zurückkehrt und gegenüber China auf Anpassung umschwenkt, bricht ein entscheidender Stein aus der südostasiatischen Containmentfront gegenüber China. Gegen die Asean werden die demokratischen Staaten der Region – die USA ebenso wie etwa Japan und Australien – kaum einen glaubwürdigen Schutz gegen den aussenpolitischen Neo-Maoismus der chinesischen Führung aufrichten können.
Schlechtes Klima für grosse Handelsverträge
TTP, der zweite Pfeiler der amerikanischen Asienpolitik, wird allerdings primär von Washington selbst untergraben. Beide Präsidentschaftskandidaten haben sich dagegen ausgesprochen. Falls dies die Politik der – hoffentlich Realität werdenden – Clinton-Administration bleibt, wird diese ihren ersten strategischen Fehler bereits vor Amtsantritt begangen haben. Denn ein Pfeiler bedingt den anderen.
Die Erfahrung seit dem chinesischen Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO vor rund 25 Jahren zeigt, dass dank Freihandel Schwellenmärkte von der Globalisierung insgesamt profitieren. Im Jargon der internationalen Wirtschaftstheoretiker heisst das „The Great Convergence“ und meint das allmähliche Aufholen der dritten gegenüber der ersten Welt. (Was innerhalb der Staaten dabei passiert, ist ein anderes Kapitel.) Ohne den wirtschaftspolitischen Anreiz von TPP wiegen die poltischen Kosten einer Konfrontation mit Beijing für die südostasiatischen Schwellenländer doppelt so schwer.
Das euroatlantische Gegenstück zum TPP, die Transatlantic Partnership for Investment and Trade TTIP, ist mindestens ebenso gefährdet. Im Vorfeld des EU-Gipfels von Bratislava haben lediglich einige der nördlichen EU-Mitglieder den Appell zum Abschluss und zur Ratifikaton von TTIP unterzeichnet, nicht aber Deutschland und Frankreich, wo bald Wahlen anstehen. Gewisse berechtigte Bedenken wegen mangelnder Transparenz bei der Aushandlung dieses Vertragsprojekts sowie offensichtlich werdende Ungleichheiten innerhalb westlicher Gesellschaften haben sich mit dumpfen Globalisierungsängsten und antiamerikanischem Populismus zu einem Gemisch vermengt, das für TTIP fatal werden könnte. Dieses Gemisch treibt in unseren Ländern tausende von Demonstranten auf die Strasse. Als würden mit Abschottung erfahrungsgemäss am Ende nicht alle zu Verlierern.
Vage EU-Roadmap in Bratislava
Auf dem Wellenkamm von berechtigten (etwa im Falle Italiens oder Deutschlands) und irrationalen Integrationsproblemen, die von der gegenwärtigen Migrationswelle ausgehen, erleben wir zudem das Vordringen eines rechtsextemen Populismus in verschiedenen westeuropäischen Ländern. Hier spielten vor kurzem noch politische Politschwindler wie Le Pen, Beppe Grillo, Geert Wilders und andere „Alternativen“ zu den jeweiligen Mitte-Regierungen eine eher marginale Rolle. Mit dem Brexit hat zudem eine zusammengewürfelte Mannschaft von insularen Rechtspopulisten mutwillig die nationalistische Büchse der Pandora geöffnet.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die EU in ihrer Gipfelerklärung „Bratislava Declaration and Roadmap“ relativ unverbindlich blieb, unter Vermeidung anstehender Grundsatzentscheide.
Hauptthema Sicherheit
Eine Ausnahme indes besteht. Es betrifft das Thema „Sicherheit“, das sowohl in der erwähnten Erklärung wie auch an einer der immer häufiger werdenden bilateralen Pressekonferenzen Merkel/Hollande am Rande des Gipfels ausführlich angesprochen worden ist. Sicherheit ist eines der wenigen europäischen Themen, ausser den Subventionen aus Brüssel, welches auch die rechtsnationalen Regierungen in den „Visegrad-Staaten“ (Ungarn, Polen, tschechische sowie slowakische Republik) intressiert. Weder der ungarische Regierungschef Orban, der Putin als „richtigen Mann“ bewundert, und noch viel weniger die Polen und die Tschechslowaken haben die Lektionen der europäischen Geschichte vergessen. Sie seien allenfalls bereit, fehlende Solidarität mit Zusatzleistungen im Bereich Sicherheit zu kompensieren, hiess es in diesem Zusammenhang in Bratislava.
Frontex als Testfall
Ein erster Lackmustest wird die Art und Weise sein, wie der im Bratislava-Text erwähnte Wille, „niemals mehr einen Zustand unkontrollierbarer Migration“ wie im letzten Sommer zuzulassen, in die Tat umgesetzt wird. Für eine wirkungesvollere Kontrolle soll als erstes die EU-Grenzschutzpolizei „Frontex“ verstärkt werden. Für dieses Projekt sollte sich auch die Schweiz mit Nachdruck interessieren.
Von Frontex zu einer europäischen Armee ist der Weg indessen lang, kompliziert und teuer. Bis vor kurzem war es undenkbar, dass die nach Frankreich zweitstärksten Streikräfte Europas daran nicht teilhaben würden. Das hat sich seit Brexit grundsätzlich geändert. Glaubt man zudem einem kürzlich publik gewordenen Memorandum des ehemaligen Generalstabschefs der britischen Streitkräfte, wäre dies allenfalls kein allzu grosser Verlust mehr. Als Folge gewichtiger Budgetkürzungen sei das Königreich lediglich noch in der Lage, so führt General Sir Richard Barrons darin aus, sekundäre Hilfeleistungen für einen stärkeren Partner wie die USA zu leisten. Auch hier also scheint sich eine Entwicklung von Great Britain zu Little England anzubahnen.