Enrique Mazzola ist Spezialist für Belcanto. Und Belcanto heisst «Schöngesang». Enrique Mazzola ist aber nicht Sänger, sondern Dirigent. In Zürich dirigiert er nun «Maria Stuarda» von Gaetano Donizetti. Ein Werk des Belcanto. Und in diesem Fall steht «Belcanto» als Begriff für Opernkompositionen aus der Zeit von etwa 1810 bis 1845 in Italien, also Rossini, Bellini oder eben Donizetti.
Es ist Sonntagnachmittag im Opernhaus. Die letzte Vorstellung von Heinz Holligers «Lunea» ist gerade zu Ende gegangen. Enrique Mazzola führt mich zielstrebig durch die Gänge, in denen die Darsteller von «Lunea» ein letztes Mal ihre Garderoben aufsuchen und die Kostüme abgeben. Wenig später kommen schon Musiker, um sich für das philharmonische Konzert am Abend vorzubereiten. Es herrscht wuseliges Kommen und Gehen. Aber im Musikzimmer ist es ruhig, hier lassen wir uns nieder.
Barcelona, Mailand, Paris …
Enrique Mazzola kommt gerade von einem Kurzbesuch aus Paris zurück. In Paris ist er jetzt zuhause, denn seit 2012 leitet er das Orchestre National d’Ile de France und hat soeben auch die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Eigentlich ist er ja Italiener, geboren aber als Spanier in Barcelona … daher der spanische Vorname Enrique. Durch Adoption bekam er einen italienischen Nachnamen zum spanischen Vornamen und wuchs in Mailand auf. Ein Werdegang, der ihn schon früh in den Kinderchor an die «Scala» führte, denn die Musik war der Rote Faden durch sein Leben. «Mein leiblicher Vater war erster Hornist im Teatro Liceo in Barcelona, und mein italienischer Vater war Coach und Souffleur in der Scala», erzählt er.
Dort in der Scala hatte er sein Schlüsselerlebnis. «Es war vor der letzten Szene im Wozzeck, ich war Solist im Kinderchor und starrte hinter den Kulissen auf den Schwarz-weiss-Bildschirm, wo Claudio Abbado dirigierte. Ich war etwa acht Jahre alt und völlig fasziniert von diesem Mann. Ich wusste nichts über Abbado, aber ich spürte, er muss etwas ganz Besonderes sein. Da war mir klar: Dirigieren, das will ich auch. Genau wie der Mann auf dem Monitor.» So lernte er zunächst Geige und Klavier und hängte ein Dirigier- und Kompositionsstudium in Mailand an.
Seither dirigiert Enrique Mazzola also. Und er tut dies ganz offensichtlich mit grösster Freude.
Zwischen Sinfonie und Oper
In Paris liegt der Schwerpunkt mit seinem französischen Orchester auf dem sinfonischen Bereich. Wenn er als Gastdirigent unterwegs ist, leitet er vor allem Opern. Mazzola strahlt übers ganze Gesicht, wenn er darüber spricht. Und jetzt, hier in einem Musikzimmer des Opernhauses, dreht sich das Gespräch vor allem um Donizettis «Maria Stuarda», ein Werk das er zum ersten Mal dirigiert. «Ernste Opern von Donizetti werden nicht so oft aufgeführt, da muss man die Gelegenheit wahrnehmen, wenn sie sich bietet …», sagt er halb scherzend. «Gewöhnlich verbindet man mit Donizetti die leichten Sachen, ‘Elisir d’amore’, ‘Don Pasquale’, ‘La fille du régiment’ … dabei waren tragische Stücke wie ‘Maria Stuarda’ wegweisend für den Stil der romantischen italienischen Opern.»
«Maria Stuarda» beruht auf Friedrich Schillers «Maria Stuart» und behandelt den Machtkampf zwischen der englischen Königin Elisabeth I. und ihrer Rivalin Maria Stuart aus Schottland, der mit der Hinrichtung Maria Stuarts endet. Ein hochdramatischer Stoff mit ebenso dramatischer Musik.
Es gebe durchaus Unterschiede beim Dirigieren eines ernsten, tragischen oder eines leichten, lustigen Stücks von Donizetti. «In gewissen Momenten ist es bei den lustigen schwieriger, weil man die Musik ganz exakt an einen Witz in der Handlung heranführen muss, damit das Publikum lacht … Eine ‘ernste’ Oper lässt da mehr Raum. Das Timing, um Gefühle auszudrücken, also Hass, Rache, Liebe, Eifersucht, ist sehr differenziert. Wenn einem das richtige Timing gelingt, hat man auch den Schlüssel zu den frühen Verdi-Opern gefunden. Das ist der Weg zu den dramatischen Risorgimento-Opern des jungen Verdi. Alle Zutaten sind in ‘Maria Stuarda’ bereits vorhanden. Es ist wie der letzte Mosaik-Stein, um zu verstehen, was sich seit Rossinis tragischen Opern bis zu Verdi musikalisch entwickelt hat. Ecco … ‘Maria Stuarda’ steht genau dazwischen, also auf einer Linie, die bei Rossinis ‘Tancredi’ beginnt und über ‘Robert Devereux’ bis zu Donizettis ‘Anna Bolena’ führt.»
Mit Belcanto auf dem Weg zu Verdi
Es ist ein grosser Bogen, den Mazzola da bei seinen Erklärungen über die italienischen Opern jener Zeit schlägt. Man spürt: hier ist er zuhause, hier kennt er sich aus. Was aber ist für ihn die spezielle Herausforderung, nun «Maria Stuarda» zu dirigieren? Mazzola schaut kurz über den Rand seiner roten Brille ins Leere … und sagt dann: «Die Herausforderung besteht darin, diese Stücke ins Standard-Opern-Repertoire des 21. Jahrhunderts zu integrieren. Es gibt immer noch dieses Vorurteil, dass Belcanto irgendwie zur leichten Muse gehört, besonders in deutschsprachigen Ländern, wo Wagner und Strauss zuoberst stehen. Deshalb konzentriere ich mich seit rund zehn Jahren auf Belcanto Opern und stelle fest, dass viele Sänger, Musiker und Regisseure denken, Belcanto sei ganz einfach. Da sage ich: Nein! Und Achtung: Ohne die kreative Geschichte des Belcanto gäbe es den wunderbaren Verdi nicht und wahrscheinlich auch nicht den revolutionären Wagner!»
Mazzolas Begeisterung ist gross. Vermutlich auch durch die gute Zusammenarbeit mit dem Orchester, das dank der Arbeit mit Dirigenten wie Nello Santi oder jetzt Fabio Luisi geradezu prädestiniert sei für das italienische Repertoire. «Wir proben sehr effizient», sagt er. «Wir arbeiten zwanzig Minuten wirklich hart, dann ist dem Orchester klar, welchen Klang ich mir vorstelle und es geht wie von selbst. Mein Belcanto-Stil ist ziemlich extrem, ich mag extreme Tempi: sehr schnell und sehr langsam, also eine extreme Dynamik. Ich denke, der Unterschied zwischen Belcanto in den Fünfzigerjahren und heute liegt darin, dass man in den Fünfzigerjahren versucht hat, alles ‘dolce’, also ganz sanft zu spielen. Das wurde für das Publikum langweilig, weil alles gleich tönte. Aber Donizetti klingt ganz anders als Bellini. Diese Unterschiede möchte ich unterstreichen.»
Unterschiede im Tempo mag Mazzola nicht nur in der Musik, wo er sie am liebsten extrem hat, sondern auch im Leben. Verglichen mit dem Alltag in Paris, Mailand oder New York, laufe es in Zürich doch alles etwas ruhiger und langsamer. «Das gefällt mir sehr, das gibt Lebensqualität. Während meines Aufenthaltes wohne ich in der Altstadt und geniesse es, morgens in ein schönes Café zu gehen und Zeitung zu lesen. Ich versuche ins Zürcher Leben einzusteigen – und bin viel langsamer unterwegs.» Klar, in Paris wird anschliessend wieder ein Gang höher geschaltet. Aber auch da sind es die Tempo-Unterschiede, die die Qualität ausmachen. In der Musik und im Alltag.
Gaetano Donizetti
«Maria Stuarda»
Opernhaus Zürich
Premiere: 8. April 2018