Die nicht international anerkannte bisherige Regierung von Tripolis hat sich offenbar mehrheitlich entschlossen, den Plan der Uno-Vermittler anzunehmen und ihren Anspruch, Libyen zu regieren aufzugeben. Eine Woche nach der Ankunft des neuen aus dem Vermittlungsplan hervorgegangenen Regierungschefs Fayez al-Sarraj in einer Marinebasis bei Tripolis hat die dortige Regierung ein Schreiben veröffentlicht, in dem sie erklärt, sie trete im Interesse der libyschen Bevölkerung zurück, um Blutvergiessen zu vermeiden.
Das Dokument trug den aufgedruckten Namen der Tripolis-Regierung, jedoch keine individuellen Namen und keine Unterschrift. Der bisherige Justizminister sagte, das «Parlament» habe sich versammelt und mehrheitlich die Annahme des Plans der Uno-Vermittler und deren neue Einheitsregierung akzeptiert. Es hiess auch, eine Minderheit des bisherigen «Parlaments» von Tripolis sei ebenfalls zusammengetreten und weigere sich, den Beschluss der Mehrheit anzunehmen.
Vom Saulus zum Paulus
Zuvor hatten «Parlament» und «Regierung» von Tripolis die neue Einheitsregierung abgelehnt und Versuche unternommen, dem neuen Ministerpräsidenten und seinen Mitarbeitern die Einreise aus Tunesien zu verweigern. Diese waren jedoch am 30. März dennoch auf dem Seeweg in der Marinebasis bei Tripolis eingetroffen. Der neue Ministerpräsident hatte anschliessend von dieser Basis aus seine Regierungstätigkeit aufgenommen.
Zehn Städte Tripolitaniens hatten sich bereit erklärt, seine Einheitsregierung anzuerkennen. Auch die Nationalbank und die Nationale Erdölgesellschaft Libyens hatten erklärt, sie wollten mit dem neuen Ministerpräsidenten zusammenarbeiten. Dies war wichtig, weil alles Geld aus dem Ausland und alles im Ausland lagernde Geld Libyens über diese beiden Institutionen an die Regierung fliesst.
Neue Rolle für die Versammlung von Tripolis
Der Vermittlungsplan der Uno sieht vor, dass das bisherige selbsternannte Parlament von Tripolis eine Art Oberhaus bilden wird, während das gewählte Parlament von Tobruk als Parlament im Amt bleibt und beide zusammen, bis Neuwahlen stattfinden können, ein Aufsichtsrecht über die neue Einheitsregierung wahrnehmen.
Das «Parlament» von Tripolis hat sich offenbar mehrheitlich entschlossen, diese neue Funktion zu übernehmen. Der Sonderbauftragte der Uno, Martin Kobler, dem Tripolis bisher die Einreise in die libysche Hauptstadt verboten hatte, ist nun dort angekommen. Er hat die Neuentwicklung begrüsst, aber angemerkt, den Worten müssten nun auch Taten folgen. Was man wohl so zu verstehen hat, dass die Übergangslösung durch Machtübernahme der neuen Einheitsregierung noch nicht unter Dach gebracht ist.
Milizen kommandieren die Parlamente
In Wirklichkeit hängt in Libyen alles vom Verhalten der bewaffneten Milizen ab. Sie dominieren die Politiker, weil sie Waffen tragen. Es gab seit einiger Zeit Indizien dafür, dass die Misrata-Miliz, eine der stärksten unter den gegen 200 Milizen des Landes, die bisher Tripolis gestützt hatte, der geplanten Einheitsregierung zuneigte.
Dies ist verständlich. Misrata, die zweite Stadt Tripolitaniens, die ein Jahr lang Ghaddafi und seinen Truppen heroischen Widerstand geleistet hatte, besitzt eine Art von Stadtregierung. Sie war gebildet worden, um den Überlebenskampf der Hafenstadt zu leiten, und sie blieb nach dem Tod des Diktators weiter aktiv. Das heisst, dass die Misrata-Milizen einer Art von ziviler Oberhoheit unterstehen, welche die Kämpfer politisch zu lenken vermag. Im Gegensatz dazu wird die Grosszahl der anderen Milizen bei politischen Stellungnahmen von ihren Anführern bestimmt.
Sieg der Vernunft in Misrata?
Die Hafen- und Handelsstadt Misrata hat natürlich ein politisches Interesse an einer Rückkehr Libyens zu Sicherheit, Frieden und Erdölförderung. Deshalb ist es logisch, dass sie über ihre Miliz die Machtergreifung der Einheitsregierung zu fördern sucht.
Bisher waren die Milizen von Tripolis, die hinter Parlament und Regierung von Tripolis standen, zu einer Allianz zusammengeschlossen, die sich «Morgenröte Libyens» nannte. In dieser Allianz galten die Misrata-Milizeinheiten als die stärksten Glieder. Andere Milizen gehörten auch zur Morgenröte, darunter auch solche, von denen es heisst, sie seien von den Muslimbrüdern inspiriert und neigten ihnen zu.
Gegenwärtig ist unklar, ob Morgenröte fortbesteht und wenn ja, welche Richtung bei ihr dominiert und welche Milizen möglicherweise ausgetreten sein könnten. Dass eine Mehrheit der Abgeordneten des Parlaments offenbar für die Uno-Lösung eintritt und eine Minderheit sie ablehnt, spiegelt wahrscheinlich die Verhältnisse innerhalb der Milizenallianz Morgenröte. Man kann also vermuten, dass die Allianz ebenfalls gespalten sein dürfte.
Doch die Lage in Tripolis hat sich offensichtlich zum Vorteil der neuen Einheitsregierung entwickelt. Man kann hoffen, dass diese sich in der libyschen Hauptstadt durchsetzen wird.
Tobruk unter dem Einfluss Haftars
In Tobruk sieht es schwieriger aus. Noch ist das Tobruk-Parlament, bisher die international anerkannte Versammlung, nicht offiziell zusammengetreten, um darüber zu bestimmen, ob sie den Uno-Kompromiss und seine Einheitsregierung annehmen will oder nicht.
Auch in Tobruk hat man auf die Bewaffneten zu schauen, wenn man verstehen will, wie die Parlamentarier sich verhalten. Dort kommandiert General Khalifa Haftar die sogenannte Nationale Armee. Sie besteht aus Überresten der Armee Ghaddafis, die sich 2011 in Bengasi auf die Seite der Rebellen schlugen, zusammen mit anderen Einheiten und Milizen, die sich ihnen angeschlossen hatten.
Haftar wurde von der Regierung von Tobruk zum Oberkommandanten dieser Truppen ernannt. Unter ihm haben sie sich seit 2014 mit beschränktem Erfolg gegen islamistische Milizen geschlagen, die Bengasi beherrschten und in der Stadt Derna den Ton angaben. Erst in den letzten Wochen scheint sich die Lage in Bengasi zugunsten der Regierung von Tobruk verschoben zu haben, dem Vernehmen nach mit der Hilfe französischer Sondertruppen.
Haftar sucht sich zu halten
Haftar gilt in Tripolis als inakzeptabel, weil er in den frühen 80er Jahren ein hochrangiger Mitarbeiter Ghaddafis gewesen war. Er selbst dürfte wissen, dass seine Chancen, als Militärchef unter der neuen Einheitsregierung fortzuwirken, gering sind.
Dieser Umstand dürfte der wichtigste Grund dafür sein, dass bis jetzt das Parlament von Tripolis nicht zusammentreten und daher auch nicht über den Plan der Einheitsregierung abstimmen konnte. Man kann vermuten, dass Haftar in den Kulissen weiterhin eine Zusicherung zu erreichen sucht, dass er Chef der künftigen Streitkräfte der kommenden Einheitsregierung werde, bevor er zulässt, dass «sein» Parlament die Bildung dieser Einheitsregierung billigt.
Haftar steht in Verbindung mit Präsident al-Sissi in Kairo. Dass der ägyptische Nachbargeneral und Staatschef ihm den Rücken deckt, dürfte seinen Widerstand gegen die Einheitsregierung stärken.
Ein Schritt voran, noch keine Lösung
All dies bedeutet: Die von der Uno und den europäischen Grossstaaten geförderte libysche Einheitsregierung sitzt noch nicht fest im Sattel. Doch der mindestens weitgehende, wenngleich möglicherweise noch nicht völlige Rücktritt der Regierung von Tripolis bedeutet einen wichtigen Schritt voran zu einem vollen Erfolg des Uno-Plans.
Wenn dieser Plan zur Durchführung kommt, wird ein nächster Schritt in Libyen darauf abzielen, dass die Einheitsregierung mit Hilfe der europäischen Staaten und möglicherweise der Nato in Libyen gegen den IS vorgeht, der sich in Sirte und Umgebung eingenistet hat.
Für die mittelfristige Entwicklung in Libyen wird aber wahrscheinlich noch wichtiger sein, ob es gelingt, oder vorsichtiger ausgedrückt, wie weit es gelingt, die bewaffneten Banden, die sich Milizen nennen, entweder zu entwaffnen oder in die reguläre Armee einzubinden.
Die Milizen ihrerseits werden versuchen, das gleiche Spiel noch einmal zu spielen, das sie mit den ersten beiden gewählten libyschen Regierungen getrieben haben. Nämlich sich als Milizen unter ihren eigenen Anführern der Regierung zur Verfügung zu stellen, um als Ordnungshüter zu wirken – nur um dann in einem zweiten Akt die gleichen Regierungen und Parlamente unter Druck zu setzen, um sie zwingen, das zu tun, was die Milizchefs von ihnen wünschten.