Sie sind mir schon im Postauto von Wetzikon nach Bauma aufgefallen, die beiden älteren Herren in Wanderausrüstung, wobei ich ehrlicherweise anfügen sollte, „älter“ könne durchaus bedeuten, die beiden seien möglicherweise jünger als ich. So verschieben sich Eigen- und Fremdwahrnehmung im Laufe der Zeit – wohl zum eigenen Schutz!
Als sich der Bus hinter Bäretswil bis auf uns drei Alte geleert hat, kann ich der herzlichen Unterhaltung der beiden nicht mehr ausweichen und werde zum Lauscher. Es müssen, so meine Vermutung, ehemalige Arbeitskollegen oder Schulkameraden sein, welche von Zeit zu Zeit zusammen wandern gehen. Wie wunderbar es doch sei, in einem fast leeren Bus unseres fantastischen ÖV-Systems durch die Landschaft zu fahren, sagt der Eine. Die An- und Rückfahrt sei für ihn mindestens so schön wie die Wanderung selbst, denn man könne zusammen reden, Neues über gemeinsame Bekannte austauschen und das aktuelle Sportgeschehen kommentieren. Ja, unser Roger Federer, unser Beat Feuz – da dürfe man als Schweizer wieder einmal stolz sein.
Guyer-Zellers Spleen
Als der Bus dann die Schienen der ehemaligen Uerikon-Bauma-Bahn quert, meint der andere, er könne sich an die Zeit erinnern, als auf der UeBB, die man damals spöttisch „Überbeinbahn“ genannt habe, noch der alte Dampftriebwagen unterwegs gewesen sei.
Meine Gedanken schweifen in die eigene Kindheit zurück. Zwar mag ich mich nicht mehr an den Betrieb der UeBB erinnern (er wurde 1948 eingestellt), aber ich sehe noch, im Zug von Küsnacht nach Rapperswil sitzend, in Uerikon das gemauerte Viadukt vor mir, welches die Betriebseinstellung einige Jahre überlebt hatte, und auf dem die Züge der UeBB einst gegen Hombrechtikon gefahren waren.
Mein Vater erzählte mir damals von Adolf Guyer-Zeller, Spinnereibesitzer aus Neuthal, welcher seine Fabrik an die weite Welt anschliessen wollte und dazu die Vision einer Bahn vom Bodensee nach Turbenthal und Bauma und weiter an den Zürichsee entworfen hatte, von wo eine Fähre die Verbindung zur Gotthardbahn und nach Italien vermittelt hätte. Auf einer Eisenbahnkarte der Schweiz versuchte damals der staunende Knirps, sich ein Bild von Guyers Welt zu machen.
Nach vielen politischen Scharmützeln kam im Jahr 1901 wenigstens das Teilstück von Bauma nach Uerikon am Zürichsse in Betrieb, doch Guyer-Zeller sah seine Bahn nicht mehr fahren, denn er verstarb 1899, noch vor Baubeginn. Die Strecke von Nirgendswo nach Niemandsdorf überlebte nicht einmal fünfzig Jahre.
Das Postauto erreicht Bauma und weckt mich aus meinen Erinnerungen. Immerhin: Ganz ohne Spuren ist der spleenige Visionär von damals doch nicht aus dieser Welt geschieden. Geschützt unter einem Hallendach stehen mehrere Personen-, Gepäck- und Güterwagen aus den Anfängen des Eisenbahnzeitalters, welche der Dampfbahn-Verein Zürcher Oberland im Laufe der Jahre gesammelt hat und seit 1978 im Sommerhalbjahr auf dem letzten erhaltenen Stück der UeBB, der Strecke zwischen Bauma und Hinwil, als Nostalgiezug einsetzt.
Erinnerung an einen Film
Meine Wanderkollegen scheinen das gleiche Ziel zu haben wie ich: den 809-er nach Sternenberg und von dort, so vermute ich, den Weg aufs Hörnli. Der gelbe Minibus steht etwas weiter hinten und wartet auf Kundschaft. Ausser den drei Ausflüglern steigt noch eine Frau mit einem behäbigen Golden Retriever ein. Der Chauffeur, von der Hundehalterin mit „Salü Norbert“ begrüsst, fährt seinen Bus zügig auf den engen Kehren den steilen Hang hinauf, vorbei an den Weilern Schindlet und Musterplatz. – Ob von hier einst die jungen Tösstaler in den Krieg gezogen sind?
Irgendwo unterwegs steigen Frau und Hund aus. Nun sind die „Fremden“ wieder unter sich. „Hat es da nicht einen Film namens Sternenberg gegeben“, höre ich den einen fragen. „Ja, der handelte doch vom Schulhaus, das geschlossen werden sollte“, antwortet der andere. – Wieder schweifen meine Gedanken ab. Ich versuche mich an den einzigartigen Mathias Gnädinger zu erinnern, der im Film die Hauptrolle gespielt hat.
Die genaue Geschichte rekonstruiere ich erst zuhause, Wikipedia sei Dank: Sternenberg, eine Filmkomödie von Christoph Schaub, handelt von Franz Engi (Mathias Gnädinger), der nach dreissig Jahren im Ausland in seine Heimat zurückkehrt und sich dort als ältester Schüler des Kantons Zürich für die Primarschule einschreibt, um diese vor der Schliessung zu bewahren. Weitere Mitwirkende sind Sara Capretti (die junge Lehrerin), Walo Lüönd, Daniel Rohr und andere. Ein rührender Heimatfilm mit sozialkritischem Touch. – Die Schule in Sternenberg existiert noch immer, wie ich etwas später sehen werden.
In der Rossweid steige ich aus. Während der Bus mit meinen Kollegen weiter bis zur Endstation Gfell fährt, wandere ich in gleicher Richtung, aber oberhalb der Strasse auf der Geländekuppe, von wo der Blick in die Ostschweiz geht, zum Sternenberger Schulhaus Wis, einem modernen Bau, der nicht so ganz passen will zur getäferten, heimeligen Schulstube aus dem Film. Von weitem höre ich lautes Lachen und Schreien, dann schrillt die Schulglocke. Stille senkt sich über diese so besondere Landschaft, welche zwischen Himmel und Erde zu schweben scheint. „Sternenberg“ – ein Name zum Träumen! Bis 2014 war Sternenberg die höchstgelegene Gemeinde des Kantons Zürich; heute gehören die weit verstreuten Weiler zu Bauma.
Nach einer halben Stunde erreiche ich Gfell. Der Bus ist schon wieder zurück nach Bauma gefahren, und meine Wanderkollegen sind längst über alle Berge. Hier beginnt der Anstieg zum Hörnli. Der Gipfel hinter der waldigen Kuppe scheint zum Greifen nahe. Dennoch muss ich noch ein bisschen arbeiten, auch wenn ich die Hälfte des Höhenunterschiedes von Bauma (638 m ü.M.) zum Hörnli (1133 m ü.M.) bequem im Bus hinter mich gebracht habe. Auf dem letzten steilen Wegstück, im Schatten der nördlichen Flanke des Hörnlis, liegen noch eisige Schneeresten vom November, auf denen ich ins Rutschen komme. Ich weiche seitwärts in den Hang aus und bedaure für einmal, meine ungeliebten Wanderstöcke zuhause gelassen zu haben.
An einem gewöhnlichen Montagmorgen
Unverhofft öffnet sich der Wald. Vor mir erblicke ich die stolzen Attribute jedes echten Schweizer Berggipfels: Triangulationspyramide und Antennenmast. Wie die eingefrorenen Wellen eines grünen Meeres breitet sich die Landschaft unter mir aus, ein verwirrendes topografisches Gebilde aus bewaldeten Kuppen, dazwischen tief eingeschnittene, finstere Täler. Im Südosten markiert eine Kette von Gipfeln die Grenze zwischen Töss- und Thurtal, welche auch die Grenze zwischen den Kantonen Zürich und St. Gallen bildet. Sie beginnt beim Roten und führt über das Schnebelhorn (mit 1291 m Zürichs höchste Erhebung) zum Tössstock.
Es ist Ende Januar: Kein bisschen Schnee im Zürcher Oberland, man könnte ins Grübeln kommen. Nur die Glarner und Zentralschweizer Alpen erinnern mit weissem Überzug daran, dass wir eigentlich mitten im Winter sind. Während ich die paar Schritte zum Berggasthaus gehe, welches sich an die westliche Flanke des Gipfels schmiegt, frage ich mich, was wohl all die Leute machen, welche sonst in dieser Zeit auf Skiern und mit Schlitten im Oberland unterwegs sind. Die Antwort erhalte ich beim Betreten des Restaurants: Obschon man hierher nur zu Fuss kommen kann, ist die Gaststube voller Menschen, die meisten in meinem Alter. Wo die wohl alle hergekommen sind an einem ganz gewöhnlichen Montag morgens um Halbzwölf?
Meine Kollegen aus dem Bus sitzen schon beim Kaffee. In einer Ecke finde ich noch Platz. Während ich auf die Suppe und den Zweier Roten warte, spielt eine Frau auf der Handorgel einen Ländler. Sie gehört zu einer Gruppe, welche sich um einen langen Tisch schart. Ein Paar steht auf und beginnt zu tanzen. Mit in sich gekehrten Gesichtern drehen sich die Beiden zur Musik. In ihrer langsamen Bewegung liegt Ernst, ja Feierlichkeit, ein Ausdruck jahrzehntelangen Vertrautseins, wie ich zu spüren meine. Ein Mann, der vom Tisch aus den beiden zuschaut, imitiert mit zwei kleinen Brettchen den Rhythmus der Musik. Oberländer Kastagnetten!
Später singt die Gruppe aus mitgebrachten Büchlein Schweizer Lieder: Wehmütig und traurig die Melodie, ernst die Mienen der Sängerinnen und Sänger. Es sind vom Leben gezeichnete Gesichter, denen die Sorgen über das Altwerden anzusehen sind. Mit dem gemeinsamen Singen, das verhalten, aber innig klingt, scheinen die bösen Geister zumindest für diesen Moment gebannt und vertrieben zu sein.
Als ich später auf dem Weg nach Steg talwärts gehe, frage ich mich, wieso mich dieses Bild der feierlichen Sängerrunde so ergriffen hat. Folklore und Heimattümmelei sind mir sonst eher fremd oder gar zuwider. War es die Einsicht, dass das Älterwerden und Sterben zwar letztlich ein einsamer Prozess ist, aber es besondere Momente und Rituale gibt, in welchen wir dieser Einsamkeit zu entrinnen vermögen?
Den Weg ins Tösstal hinunter gehe ich leicht wie ein Geisslein, das von der Alp kommt. Zumindest meint das mein Kopf, doch dann, ich bin nur noch wenige hundert Meter vom Bahnhof Steg entfernt, nehme ich eine Abkürzung, rutsche auf der nassen Wiese aus und falle auf meine rechte Seite wie ein gefällter Baum. Nichts gebrochen, aber Jacke, Hosen und Rucksack sind voller Dreck. – Mein erster Gedanke: So kannst du nicht in den Zug steigen! An einem Brunnen entferne ich die schlimmsten Spuren. Auf der Heimfahrt gehen mir die Gesichter der Sängerrunde und mein plumper Fall durch den Kopf. „Nein, ein Geisslein bist du nicht mehr,“ spottet mein alter ego, „aber zu den singenden Alten würdest du auch nicht so richtig passen.“