Wie erklärt sich der Triumphzug der Taliban? Nach zwanzig Jahren eines zähen und verlustreichen Krieges liegt ihnen das Land plötzlich und fast kampflos zu Füssen. Die Berichterstattung mag dafür mitverantwortlich sein. Sie spricht selbst bei einem klassischen Partisanenkrieg wie jenem der Taliban gern von «Fronten», die es in Wahrheit gar nicht gibt. Wohl gab es bis vor kurzem Regionen, die von der Regierung, und solche, die von den Taliban beherrscht wurden. Dies suggeriert eine klare Trennung der Machtausübung, die es in der Realität gar nicht gab. Selbst in vielen von Kabul «beherrschten» und sanktionierten Stammesräten («Shura») wurden Beschlüsse von lokalen Taliban-Verbindungsleuten abgesegnet. Je abgelegener die Regionen, desto grösser war der Einfluss der Islam-Schüler. Von den über 440 Bezirken sollen bereits seit Längerem die Hälfte den Weisungen der Taliban gefolgt sein.
Die offizielle Kampfparole der Armee – die ländlichen Regionen den Taliban überlassen, die Provinzhauptstädte halten – würde nur einen Sinn machen, wenn die Dörfer und kleinen Marktflecken von der Macht der Provinzregierung abhängig wären. Dies ist aber keineswegs so, denn Afghanistan ist nach vierzig Jahren Krieg so arm, dass die grosse Mehrheit des Volks sich weitgehend mit einer Subsistenzwirtschaft am Leben erhält.
Parallel-Verwaltung
Die «Infiltration» der Taliban in das staatliche Verwaltungsnetz gilt aber nicht nur für ländliche Shuras, sondern auch für Stadtverwaltungen. Vor einigen Monaten beschrieb der amerikanische Journalist Steve Coll, Autor eines vielbeachtete Buchs über die Rolle Pakistans im Afghanistan-Konflikt, im New Yorker seine Treffen mit Gemeindevertretern eines Quartiers am Rand der Hauptstadt Kabul. In aller Stille hatten vor rund einem Jahr Taliban-«Vertreter» in unauffälliger Kleidung dort Quartier genommen. Bald bildete sich daraus eine Art von Parallel-Verwaltung heraus. Sei es bei Problemen mit der Wasser- oder Stromversorgung, der Müllentfernung und sogar der Verkehrsregelung – in praktisch allen kommunalen Angelegenheiten wurde der Taliban-Kommandant-in-Zivil informiert. Und irgendwann begann er wohl auch, so vermutete Coll, die Strippen zu ziehen.
Wenn dies in der Hauptstadt des Landes möglich ist, unter der Nase der Regierung und zweifellos jener der staatlichen Geheimdienste, dann ist naheliegend, dass dies auch in anderen Provinzhauptstädten geschah. Es könnte erklären, warum diese mit solcher Schnelligkeit und beinahe kampflos die Hand wechselten.
Nicht nur die geografischen Grenzen sind fliessend
Eine informelles Kondominium zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ist für Afghanistan auch nichts Neues. Auch zwanzig Jahre amerikanischer Präsenz konnte eine eingespielte Praxis nicht eliminieren, in der sich der Staat die Macht mit den Warlords teilte, oft sogar in Personalunion. Nicht nur die geografischen Grenzen zwischen den Streitparteien sind fliessend, auch die Befehlsstrukturen sind es, und die Machtteilung – zumindest solange es in Kabul noch eine Regierung gab.
Die lose Kommandostruktur der Taliban-Verbände erlaubt zudem viel Flexibilität beim Einsatz der Kämpfer, die mal als Scharfschützen und Bombenleger, dann als Verkehrspolizisten agieren können. Dasselbe gilt für die Kommandanten selber, die vielleicht strategisch denkende Militärplaner sind, oder dann brutale und schiesswütige Fanatiker. Sie operieren lokal weitgehend unabhängig und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Der Haqqani-Clan, dessen Basis in der pakistanischen Stammesregion liegt, ist für seine Grausamkeit verrufen, aber auch für den Drogenhandel und seine engen Beziehungen zum pakistanischen Geheimdienst ISI. Dennoch nimmt er einen Platz im dreiköpfigen Obersten Shura-Rat ein.
Mehreren Herren dienen
Auch die breite Bevölkerung hat in 42 Jahren Krieg – seit dem Einmarsch der Sowjettruppen im Dezember 1979 – gelernt, mehreren Herren zu dienen, wenn es um das nackte Überleben geht. Ideologische Grundsätze – Demokratie, die Rolle der Frauen – sind dann, so teuer sie vielen sein mögen – zweitrangig. Man ist also nicht zu den Taliban «übergelaufen», sondern hält sich zurück. Hat man ein Anliegen – für eine Rationenkarte zum Beispiel, oder eine Fahrbewilligung in die nächste Stadt – reiht man sich nun vor einer anderen Türe in die Warteschlange ein, und in einem Gebäude, über dem statt der rot-grünen Flagge nun die schwarze mit den Koranversen hängt.
Es wird interessant sein zu verfolgen, wie die Taliban mit der Allmacht umgehen, die ihnen in den Schoss gefallen ist. Die Versuchung ist gross, sie allein und per Dekret auszuüben. Aber die Erinnerung an die knapp vier Jahre Regierungsmacht (1997–2001) sowie ein langer Abnützungskrieg, bei dem auch auf ihrer Seite eine ganze Generation von Männern umgekommen ist, mag sie gelehrt haben, mit der Macht sorgsamer umzugehen. Auch sie anerkennen, dass sie auf Technokraten und Verwaltungsleute angewiesen sind, wollen sie ihr Land nicht dem Hunger ausliefern. Dasselbe gilt für das Ausland, das sich rar machen wird bei Nothilfe, sollte das neue Regime selbst grundlegende Menschenrechte mit Füssen treten.
Wie ein Kartenhaus eingeknickt
Ein gewisses Mass an Flexibilität ist auch vielen von ihren Führern eigen – sie sind ja Afghanen. Sie haben dies bereits bei den Gesprächen in Doha gezeigt. Dasselbe gilt für den Gegner, die afghanische Regierung, die sich kampfbereit und unerbittlich zeigen mochte, aber immer Verbindungen mit dem Gegner pflegte. Man weiss, dass der Arzt Abdullah Abdullah, der grosse Rivale des geflüchteten Präsidenten Aschraf Ghani, in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Versöhnungsrats solche Kontakte unterhielt. Er hatte gegen Ghani ausgespielt, und es wird ihm nachgesagt, dass er sich deshalb auf eine Rolle in einem Taliban-Regime positionieren wollte.
Der Schock ist gross, dass die gewählte afghanische Regierung und die vielen Milliarden Dollar teure Armee wie ein Kartenhaus eingeknickt sind. Es ist aber auch ermutigend. festzustellen, dass es bisher nicht zu Plünderungen und Metzeleien gekommen ist. Kein Bewohner Kabuls hat vergessen, dass es der Mudschahid Gulbuddin Hekmatyar gewesen war, der in jahrelanger Belagerung und täglichen Geschützregen die Hauptstadt in den neunziger Jahren in Schutt und Asche gelegt hatte.