Das Festival findet in der 66. Auflage statt. Es überwand seit 1946 sämtliche Stürme und Krisen. Der Publikumsaufmarsch wuchs kontinuierlich. Die Medien berichten weltweit. Der Platz an der Filmsonne ist nach menschlichem Ermessen gesichert. Was andere vor Glück zum Taumeln bringen würde, drückt Locarno zu Boden. Die Verantwortlichen bangen um die Existenz ihres Festivals. Sie üben sich fiebergeplagt in der Kunst, es allen recht zu tun. Die ungestillte Sehnsucht nach Lob und Liebesbeweisen übersteigt die Vernunft, gelassen zu verbessern, was in der Tat zu vervollkommnen wäre. Stattdessen vergrössert sich die Kluft zwischen Ehrgeiz und Wirklichkeit. Womöglich schlittert das Festival in ein selbstverschuldetes Drama.
Die Angst im Nacken
Die in Locarno grassierende Angst hat einen Namen. Sie heisst "Zurich Film Festival". Es begann 2005, setzte sich seither gewinnend in Szene und wird vom 26. September bis 6. Oktober zum neunten Mal durchgeführt. Das mag für Locarno insofern eine Konkurrenz sein, als dieser oder jener Film, der eine oder andere Star an der Limmat und nicht am Lago Maggiore zu sehen ist. Eventuell fliesst öffentliches und privates Geld statt unterstützend ans älteste auch mal ans jüngste Schweizer Filmfestival. Warum nur soll die Entwicklung in der Siebenten Kunst anders verlaufen als in den übrigen Künsten? Der Tessiner Anspruch auf Heiligsprechung als Monopolist ist so falsch und fatal wie die Befürchtung, Zürich schnüre Locarno die Luft ab.
Unnötig sind deshalb die handfertig zugespitzten Giftpfeile, die tief gekränkt im hohen Bogen über den Gotthard geschossen werden. Unschicklich mondän soll der Parvenü sein, dem Champagner verfallen, den Kaviar einer Polenta vorziehen und von den Filmen - der schlimmste aller Vorwürfe - kein seelisches Reinigungsgewitter erwarten, sondern bloss Zerstreuung. Dabei ist auch Locarno, Gott sei Dank, weit von einer spartanischen Anstalt für trübsinnige Büsser entfernt. Nein, die Gehässigkeiten sind ein Widerspruch zur Freiheit, zu der sich Locarno ansonsten bekennt.
Der Geist von Locarno
Wer in der Kultur, Wirtschaft und Politik Rang und Namen besitzt oder es schlicht und ergreifend als schön empfindet, die Freude an Filmen in einem einzigartigen Ambiente zu geniessen, reist nach Locarno. Er erlebt ein Filmfest, das echte Cinéphile und die für einige Tage cinéphile Prominenz miteinander verbindet. Für alle ist die Sonne gleich heiss, der Regen gleich nass und das Gedränge gleich sardinisch. Dass die einen ihre Pizza selber bezahlen und die anderen an fein gedeckte Tafeln eingeladen werden, ändert an der verschworenen Gemeinschaft nichts. Das einfache Mahl gibt es ohne geschwätzigen Reden, das opulentere mit. Die Gerechtigkeit waltet ausgleichend ihres Amtes.
Die für Filmpolitik Zuständigen knüpfen in Locarno ihre Fäden. Neben formellen Sitzungen kommt es zu entspannten Begegnungen, aus denen schon manche Brücke entstanden ist. Unter dem blauen oder dem mit Sternen übersäten Himmel verlaufen die Gespräche lockerer und zuweilen so entwaffnend ehrlich, dass sich Gegner versöhnen und sich dann zwar nicht mit Champagner, aber mit Grappa einträchtiglich zuprosten.
In Locarno herrscht ein freundschaftlicher Geist. Er hat sich in Jahrzehnten als ortsgebundene Charaktereigenschaft gefestigt. Diesen Vorsprung holt kein anderes Festival ein. Es ist ein weiterer Widerspruch, einerseits auf die starke Tradition stolz zu sein und anderseits deren unmittelbare Bedrohung zu bejammern.
Die grosse Attraktivität als schwere Hypothek
Jeder Gedanke an Locarno verbindet sich mit den abendlichen Filmvorführungen auf der Piazza Grande mit ihrer südländischen Häuserkulisse. Begreiflicherweise sind die 8.000 Plätze meist und rasch ausverkauft. Die Arena als attraktives Markenzeichen verleiht den Stimmen und der Musik auf der Leinwand kolossalen Sound und dem Schluss-Applaus gewaltigen Schub.
Allerdings: Fürs grösste Openair-Kino der Schweiz eignen sich ausschliesslich Filme, die den breiten Geschmack bedienen. Schwierige Werke scheitern bereits an der Wucht der Leinwand, die jede subtile Gestaltung und das experimentell Suchende grausam erschlägt. Wo das halt so arglose Publikum klatscht, rümpfen die von Orchideen-Blättern entsandten Kritiker die Nase.
Mit diesen Tatsachen gerät Locarno in Widerspruch zur eigenen Philosophie, intellektuelle Filme zu pflegen und das Neue zu fördern. Die Filme auf der Piazza Grande täuschen zwangsläufig ein Wide-Audience-Festival vor, wogegen sich Locarno im Grunde seines Herzens erbittert sträubt. Und sich überdies in die eigene Tasche lügt durch die offiziellen Reden, die als oberste Programm-Maxime und in edelster Form "Kunst und Kultur" beschwören.
Unübersichtliche Vielfalt
Die anspruchsvollen und die für den Wettbewerb ausgewählten Filme müssen mit Nebenschauplätzen Vorlieb nehmen, die teils weit voneinander entfernt in der Altstadt und der Industriezone liegen, die zur Piazza Grande nicht gegensätzlicher sein könnte. Der mangels Alternativen in eine Spielstätte umgebaute "Palexpo Fevi" ist nicht nur nach eigenem Bekunden das "grösste Kino Europas", sondern objektiv eines der hässlichsten und stimmungslosesten. Es wirft auch die Frage auf, wie zügig im Notfall die Evakuierung des Publikums gelingt.
Mit den zwölf unscharf definierten Programm-Sektionen, den 24 Festival-Örtlichkeiten, 291 Filmen, 411 Vorführungen und den erwarteten 160.000 Zuschauern präsentiert sich Locarno als Supermercato mit Streck-, Sicht-, Greif- und Bückzone. Hochwertiges steht neben Billigem, Notwendiges neben Nutzlosem. Masse und Unübersichtlichkeit bilden einen Widerspruch zum Ideal eines Festivals der Reflexion, das keinen Trends folgen, sondern eigene setzen will, dem Ziel verpflichtet, dass sich Filmschaffende und Filminteressierte in lustvoller Ernsthaftigkeit begegnen und das Medium künstlerisch beflügeln.
Vielleicht ist es ein Detail, doch bestimmt ein bezeichnendes: Wenn der Direktor mal im Strassenanzug, mal im Smoking einen Piazza-Film ankündigt, dann weiss er nicht, mit welchem Profil und auf welcher Stilhöhe sich das Festival bewegt.
Irrer Glaube ans Wachstum
Weshalb Locarno für seine Zukunft das ungebremste Wachstum anbetet, gehört zu den irritierenden Rätseln. Bereits heute erstickt das Programm in seiner eigenen Fülle. Die Logistik rotiert am Anschlag. Der Bezug der Kinoplätze erinnert ans lästige Boarding eines Jumbos. Muss regenbedingt die Projektion auf der Piazza Grande abgebrochen und das Publikum mit Autobussen in die Fevi-Halle verschoben werden, läuft eine Zivilschutzübung aus dem Ruder. Sie ergänzt den Kampf um einen Nachtessens-Platz in den brechendvollen Restaurants. Hotelzimmer sind Monate im Voraus zu buchen.
Im Widerspruch zu den kulturellen Ambitionen ist die Festivalleitung quotenhörig geworden. Sie glaubt an die Masse und jährliche Steigerungsraten. Wie jeder Supermercato auch.
Neue Leidenschaft
Einleuchtender, einfacher und einträglicher wäre es, das Programm nach Qualitätskriterien zu verdichten und klar zu strukturieren, die Inflation der Nebenpreise einzudämmen, die improvisierten Vorführorte im längst geplanten "Palacinema" endlich professionalisieren zu können und den vom Hundertsten ins Tausendste abschweifenden Filmpräsentationen eine federleichte Dramaturgie zu verpassen.
Dies alles schlummert als Schlüssel zum nachhaltigen Erfolg im wunderbaren Kern des Festivals. So schwammig der Begriff "Kunst und Kultur" auch ist: Ja, bitte, sofort Kunst und Kultur samt der Kultur, mit Kunst umzugehen. Wir möchten doch Locarno nicht aus Gewohnheit, sondern aus Leidenschaft lieben. Sie ist eine erneuerbare Energie. Es genügt, wenn der Traum, es erwache das legendäre "Grande Albergo" zu blühendem Leben, ein Traum bleiben muss.