Seit dem 23. Dezember blockieren etwa 2000 junge Leute aus den irakischen Wüstenstämmen der Provinz Anbar die internationale Strasse, die Bagdad mit Damaskus und über eine Abzweigung mit Amman verbindet. Sie haben Zelte in der Nähe der Provinzhauptstadt Ramadi errichtet, jeder Stamm hat sein eigenes, und sie erklären, sie wollten nicht aufhören zu demonstrieren und den Verkehr abzuschneiden, bis ihre politischen Wünsche von Bagdad erfüllt würden. Es gibt auch ein "Media Zelt", wo junge Leute mit Laptops sitzen und sagen, sie wollten die Revolution, die in Syrien begann, weiterführen.
Maleki "einseitig schiitisch"
Der Protest wurde ausgelöst durch die Episode der Gefangennahme der Leibwächter des sunnitischen irakischen Finanzministers, Rafi' al-Issawi, die zur Flucht des Ministers und zu feurigen Anklagen aus seinem Mund gegen al-Maleki führte. Doch die Bewegung richtet sich allgemeiner gegen Ministerpräsident Nuri al-Maleki und dessen Politik.
Die Stammesleute, alle Sunniten, werfen ihm vor, er führe eine Politik der Diskriminierung gegen die Sunniten, indem er die Schiiten fördere und seine Macht auf sie abstütze. Dies ist in der Tat der Fall, doch umstritten ist, wie weit der Ministerpräsident dabei Unrecht begeht. Er selbst ist der Ansicht, er verhalte sich ganz den Gesetzen entsprechend, alle Anordnungen gegen vermutete Terroristen würden von den Gerichtsbehörden angeordnet.
Ein unbewältigter Bürgerkrieg
Das Misstrauen zwischen den beiden islamischen Religionsrichtungen modert seit dem mörderischen Untergrundkrieg, den die Sunniten gegen die Schiiten in den Jahren 2005 und 2006 zur Zeit der amerikanischen Besatzung führten. Maleki ist als der Vorsitzende einer schiitischen Partei, der Da'wa Partei, an die Macht gekommen. Er regiert mit Hilfe einer grossen Koalition, zu der neben mehreren, manchmal konkurrierenden, schiitischen Parteien auch Kurden und einige Sunniten gehören. Doch Maleki amtiert immer noch als sein eigener Innenminister, Sicherheitsminister und Verteidigungsminister. Als solcher hat er Sicherheitsdienste und Armeeeinheiten organisiert, die ihm persönlich gegenüber loyal sind. Seine Feinde sagen ihm nach, auch die Gerichte und die Richter hörten auf seine Gebote und Einflüsterungen.
Haschemi donnert aus der Türkei
Zu seinen bittersten Feinden gehört der ehemalige Vizepräsident, Tariq al-Haschemi, der inzwischen in absentia mehrfach zum Tode verurteilt worden ist. Haschemi hatte als einer der wenigen Vertreter der sunnitischen Gemeinschaft unter den hohen Behörden des Staates gegolten. Vor einem Jahr wurden seine Leibwächter gefangen genommen und gezwungen, Geständnisse abzulegen, nach denen sie und ihr Patron in Terrorakte gegen den Staat impliziert seien. Haschemi entkam, kultiviert seine Verbindungen zu Riad und Qatar und lebt im Exil in der Türkei. Die dortige Regierung hat sich geweigert, ihn an den Iraq auszuliefern. Er hat nicht verfehlt, bittere Kommentare zu den gegenwärtigen Entwicklungen abzugeben. Maleki sei krank vor Machtbessenheit, liess er in einer feurigen Rede aus Istanbul verlauten. Der türkische Ministerpräsident Erdogan stimmte insofern mit ein, als er Maleki öffentlich vorwarf, er führe eine "konfessionelle" Politik und spalte sein Land, „wie es in Syrien geschieht“.
Die neue Episode mit der Leibgarde des Finanzministers al-Issawi, die der Affäre al-Haschemi verdächtig gleicht, hat natürlich alle Verdachtsmomente und Ressentiments weiter gesteigert.
"Gebrochene Versprechen"
Die Anbar Provinz hat ihre eigene Geschichte. Sie bildete das Zentrum des Widerstandes gegen die Amerikaner, bis im Jahr 2007 mit dem sogenannten "surge" des Generals David Petraeus ihre Stammeschefs und Kämpfer an die Seite der Amerikaner traten und die sunnitischen Terroristen wirksam bekämpften. Diese Kämpfer von Anbar glaubten damals ein Versprechen erhalten zu haben, sie würden in die reguläre irakische Armee eingegliedert. Doch dies fand nicht statt. Die schiitische Mehrheit der irakischen Regierung wusste es zu verhindern. Manche der Stammesleute wurden mit untergeordneten Posten in der Verwaltung abgefunden. Die Armee und die Polizei des neuen Iraks war und blieb von schiitischen Offizieren und Mannschaften dominiert, abgesehen von den separaten Einheiten, die aus kurdischen Kämpfern bestehen.
Vor dem Hintergrund der Bombenanschläge
Die Versuche gewisser Sunniten, man spricht allzu vereinfachend meist von "al-Qa'ida", das Regime durch Bombenanschläge zu erschüttern, haben nie aufgehört. Die Anschläge nahmen ab in den Jahren vor dem Abzug der Amerikaner von 2011, doch im vergangenen Jahr haben sie wieder zugenommen, und sie sind immer in erster Linie gegen Schiiten gerichtet.
Diese Lage bedingt, dass die Sicherheitstruppen Malekis mit schwerer Hand zupacken. Es soll oft der Fall sein, dass einfach alle jüngeren Sunniten, die sich in der Nähe eines der Anschläge befinden, verhaftet werden und "Untersuchungen" erleiden, die von Misshandlungen kaum zu unterscheiden sind. Viele der Verdächtigen bleiben lange Zeit eingekerkert. Unter solchen Verdächtigen soll es auch Frauen geben, und das Wort geht um, sie würden sexuell missbraucht. Ihre Angehörigen wollen auch wissen, dass diese Frauen meist an Stelle ihrer Gatten gefangen genommen worden seien, weil die Regierung der Gatten nicht habhaft wurde.
Die Praxis, nach Anschlägen grosse Zahlen von Verdächtigen aus dem Umfeld festzunehmen, wurde von den Amerikanern eingeführt und wird seither von der als "schiitisch" geltenden Regierung weiter gehandhabt. Dass "unsere" Gefangenen, besonders die Frauen, befreit würden, ist denn auch eine der Hauptforderungen der Protestierenden.
Gesetze "gegen die Sunniten"
Die Maleki Regierung hat sich in der Form von Notstandsverordnungen juristische Grundlagen geschaffen, die ihr erlauben, gegen "Terroristen" und des "Terrorismus Verdächtige" sehr summarisch vorzugehen. Die Protestierenden fordern die Abschaffung dieser Verordnungen. Es gibt auch ein Gesetz gegen die Baath Partei, die ehemalige Staatspartei Saddam Husseins, das ebenfalls dazu benützt werden kann, irakische Sunniten und vermutete Sympathisanten der "Terroristen" zu verfolgen oder mindestens vom Staatsdienst auszuschliessen. Die Stammesleute von Anbar fordern auch die Aufhebung dieses Gesetzes.
Allgemeiner geht es ihnen um "Gleichstellung" mit den Schiiten, von denen sie sich diskriminiert glauben. „Arbeitsstellen“ ist die Hauptforderung von Vielen.
Syrien, Iran, Saudi Arabien
Die internationale Politik spielt in die Protestbewegung hinein. Die Stammesleute sind Freunde der syrischen Rebellen, weil diese auch Sunniten sind und in vielen Fällen zu gleichen oder verwandten Stämmen gehören, die auf beiden Seiten der Wüstengrenzen leben. Sie sind auch bittere Feinde Irans, und sie werfen Maleki vor, er und seine Anhänger seien "Diener Teherans".
Die guten Beziehungen Malekis zu Iran sind auch der Grund der Spannungen zwischen Riad und Bagdad, und es ist wahrscheinlich, dass saudische Ermunterung und möglicherweise auch Gelder mithelfen, die Protestbewegung zu motivieren. Es gibt Stämme in der syrischen Wüste, die eng mit saudischen Stämmen zusammenhängen, denn auch in saudisch-jordanischer Richtung gibt es grenzüberschreitende Stammesgruppen.
Konziliante Reden, dann Drohungen
Maleki hat zunächst vorsichtig auf die Herausforderungen aus Anbar reagiert. Er sandte Unterhändler aus und gab einige Versprechungen ab. In der besonders heiklen Frage der gefangenen Frauen, liess er verlauten, er sei bereit, einige freizulassen, andere bereits verurteilte, könnten ihre Strafen in Gefängnissen in der eigenen Provinz Anbar verbüssen. Einer seiner Unterhändler, Khaled al-Mullah, erklärte, es gebe im Ganzen 902 solcher gefangener Frauen, 700 von ihnen "könnten freikommen". Maleki habe ein Gesuch an den Staatschef geschickt, mit der Bitte sie zu begnadigen. Allerdings wissen alle: Staatschef Talabani liegt schwerkrank, kaum dem Koma entronnen, in einem deutschen Spital.
Vergebliche Intervention al-Mutlaqs
Der sunnitische Stellvertretende Ministerpräsident, Saleh al-Mutlaq, hat versucht, die Protestierenden zu beruhigen. Doch sie empfingen ihn schlecht, weil sie ihm vorwerfen, er stehe auf Seiten Malekis, obwohl er als Sunnit zu den ihrigen gehöre. Es kam zu genügend Gewalt, um seine Wächter das Feuer eröffnen und drei Personen verletzten zu lassen, von denen eine inzwischen gestorben sein soll.
As-Sadr versucht mitzureden
Der schiitische Würdenträger und Rivale Malekis, Muqtada as-Sadr, hat von der schiitischen Wallfahrtszentrale Najaf aus erklärt, er habe Verständnis für die Beweggründe der Protestierenden, und er entsandte eine Delegation seiner Anhänger, um mit ihnen zu sprechen. Dies fand Beifall bei manchen, die auch im Hinblick auf das benachbarte Syrien versuchen, den Protest gegen Maleki als Person auszurichten und ihm seine "konfessionelle" Komponente zu nehmen.
Doch andere werfen as-Sadr seine Nähe zu Teheran vor und verdächtigen ihn, er wolle ihre Bewegung ausnützen, um seine offenen Rechnungen mit Maleki zu begleichen. As-Sadr ist in der Tat stark abhängig von Teheran. Dass er beschwichtigend mitzureden versucht, könnte sehr wohl auf den Wunsch von Teheran erfolgen, weil der iranischen Politik noch mehr Unruhen nahe der syrischen Grenze und in Sympathie mit den syrischen Rebellen schwerlich gelegen kommen.
Das Vorbild der arabischen Protestbewegungen
Die Proteste dauerten fort, und Maleki hat nun auch drohende Reden gehalten. Er sagte, bisher habe der Staat grosse Geduld gezeigt, doch das Verhalten der Unruhestifter sei "gegen die Verfassung" und nicht tolerierbar. Sie sollten erkennen, dass es für "uns" ein Leichtes wäre, mit Gewalt gegen sie einzuschreiten.
Die Stammeschefs von Anbar versuchen ihrerseits, die Protestbewegung zu lenken. Doch einige von ihnen haben erklärt, es handle sich um eine "Bewegung der Jugend", auf welche die herkömmlichen Stammesautoritäten wenig Einfluss besässen. Dass neben den lokalen, regionalen und konfessionellen Spannungen auch das Vorbild der anderen arabischen Protestbewegungen eine Rolle spielt, hat als wahrscheinlich zu gelten.