Ein süsser, kommunistischer Traum. Doch Träume sind nicht nur Schäume, sie können auch ausarten in einen Albtraum. Und so erinnert sich Hu schlafenderweise an einen fürwahr historischen Satz, den Marx und Engels 1948 zur Einleitung des „Kommunistischen Manifests“ niedergeschrieben haben:
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“. Die Welt stand damals mitten in der von Grossbritannien ein Jahrhundert zuvor eingeleiteten Industriellen Revolution. Es war ein Wendepunkt der Menschheitsgeschichte, der letztlich Wohlstand brachte, am Anfang allerdings zu einem hohen sozialen Preis. Deshalb das Kommunistische Manifest, das die herrschend Ordnung in Frage stellte.
Das Gespenst der Inflation
Für Parteichef Hu Jintao, Premier Wen Jiabao und den Ständigen Ausschuss des allmächtigen Politbüros – legitime Erben von Marx und Engels – könnte angesichts der derzeitigen Wirtschaftslage im Jahre 32 der chinesischen Wirtschaftsreform dieser Satz zum Angsttraum mutieren: „Ein Gespenst geht um im Reich der Mitte – das Gespenst der Inflation“. Eine Bedrohung also für die herrschende Ordnung.
Der Konsumentenpreisindex (CPI) erreichte Ende Oktober einen Rekordwert von 4,4%. Tendenz steigend. Das erklärte Regierungsziel von 3% Inflation per Ende Jahr scheint schon jetzt nicht mehr erreichbar. China ist seit Jahr und Tag anderes gewöhnt: maximal 2% Inflation bei einem Wachstum des Brutto-Inlandprodukts von 10% plus. Beim letzten Inflationsschub vor etwas mehr als zwei Jahre waren die Energiepreise der Anlass. Diesmal sind es die Lebensmittelpreise mit einem Anstieg von satten 10% in einem Jahr. Gemüse – Pièce de Résistance der chinesischen Küche – wurde gar 18% teurer.
Wie immer bei der Inflation, es trifft jene im untern Teil der sozialen Pyramide. Taxichauffeur Cheng, der mich hin und wieder durchs Staudickicht des Pekinger Strassendschungels steuert, gehört dazu. Er rechnet vor: Anfang des Jahres gaben er und seine Frau fürs Essen pro Tag rund 35 Yuan aus, macht pro Monat 1'050; jetzt reichen 50 Yuan gerade noch knapp, d.h. monatlich 1'500 Yuan. Bei einem verfügbaren Einkommen mit seiner arbeitenden Frau zusammen von 3'900 Yuan machen in Chengs Monatsbudget Lebensmittel mithin über ein Drittel aus. Vielen Laobaixing – Durchschnittschinesen – geht es noch deutlich schlechter als Taxifahrer Cheng.
Ein Veloschlauch, 30 statt 20 Yuan
Die Preise gehen seit Wochen überall, auch dort wo es keinen Sinn macht, stetig nach oben. Bei meinem Jaozi-Strassenrestaurant kosten die im Bambus-Körbchen mit Dampf gegarten chinesischen Ravioli – eben Jiaozi – nicht mehr 15 sondern 20 Yuan. Köstlich, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Koch sagt achselzuckend: „Dou zhang jia“, d.h. alle Preise gehen nach oben. Das gleiche Lied beim Velomechaniker, der einen neuen Schlauch montiert. Kostenpunkt: 30 Yuan anstatt 20 Yuan wie vor einem Monat. Verschmitzt sagt Mechaniker Liu: „Dou zhang jia“.
Die Zentralregierung sowie die Lokalregierungen sind inmitten eines Booms mit 9% plus BIP-Wachstum äusserst beunruhigt. Eine Reihe von administrativen Sofortmassnahmen wurde in die Tat umgesetzt: Gemüse-Anbau beschleunigen, Dünger verbilligen, Transportkosten subventionieren, Lebensmittelzuschüsse für die Ärmsten, Preiskontrollen, und Spekulanten dingfest machen, die sich mit Horten und Zurückhalten von Lebensmitteln eine goldene Nase verdienten. All diese und weitere Massnahmen allerdings sind nach Ansicht chinesischer Ökonomen nicht genügend. Natürlich haben im laufenden Jahr auch Naturkatastrophen zu Ernteausfällen geführt. Wenig hilfreich ist auch der internationale Preisanstieg für Getreide und weitere Lebensmittel.
Angst vor dem Chaos
„Bei allem Respekt sollte die Regierung“, schreibt der Ökonom Zhong Jiyin von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, „ihre Geldpolitik kritisch betrachten und weniger alle Probleme heissem Geld [u.a. aus dem Ausland] und Spekulanten in die Schuhe schieben“. Die Zentralregierung ist daran, die Kreditvergabe zu drosseln. Li Daokui, Berater der Volksbank – der Zentralbank – erklärte, China werde eine „vorsichtige“ Geldpolitik mit „moderaten und schrittweisen Zinserhöhungen“ verfolgen. Eine Schnellbremsung schloss er aus. Auch könne, fügte Li hinzu, der Yuan schneller gegenüber andern Währungen zulegen, was – gut kontrolliert – auch dem Kampf gegen die Inflation helfen könnte.
Dass Partei und Regierung so nervös auf Inflation reagieren, hat gute Gründe. Während des Bürgerkriegs (1945-49) trug die Hyperinflation im Gebiet der nationalistischen Guomindang nicht unerheblich zum Sieg von Mao Dsedongs Kommunisten bei.
Beim Protest auf dem Platz vor dem Tor des Himmlichen Friedens Tiananmen 1989 erhielten die Studenten nur darum Sukkurs von Arbeitern, Angestellten und Regierungsbeamten, weil China damals inmitten einer überhitzten Wirtschaft unter einer hohen Inflation litt. Das Gespenst der sozialen Unruhen droht. Wie einst während Jahrhunderten die Kaiser fürchtet heute auch die kommunistische Führung Luan – d.h. Chaos. Und Chaos führte meist zum Verlust des Mandats des Himmels, dem Untergang der Dynastie, zum Verlust also der Macht.
Und das wäre der schlimmstmögliche Ausgang von Hu Jintaos Albtraum. Oh mögen das Marx, Engels, Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Mao Dsedong, Deng Xiaoping und Jiang Zemin verhindern. Oder wie Marx/Engels es am Schluss des Kommunistischen Manifestes formulierten: “Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!!“