Eine Wanderung von Meggen dem Vierwaldstättersee entlang zum Luzerner Lido und ein Besuch im Verkehrshaus regt zum Nachdenken über die Vergänglichkeit unseres Tuns an.
«... such dir den Schnee vom vergangenen Jahr» singt die Marschallin im «Rosenkavalier», als sie im Spiegel forschend ihr Gesicht betrachtet und an das junge Mädchen Resi denkt, das sie einmal gewesen war. – Was Hugo von Hofmannsthal vor über hundert Jahren gedichtet und Richard Strauss feinsinnig in Noten umgesetzt hat, ist die Erfahrung der Endlichkeit allen Lebens, und diese Erfahrung ist – nur scheinbar paradox – zeitlos. Es ist die Zeitlosigkeit der zerfliessenden Zeit. Oder anders gesagt: Nur die Zeit und ihr Wirken sind zeitlos.
Daran musste ich denken, als ich Ende November in Meggen Zentrum aus dem Voralpenexpress stieg und mir, über die letzten Schneehaufen steigend, welche der Schneepflug nur wenige Tage zuvor am Strassenrand aufgetürmt hatte, einen Weg zum See suchte. Hier ging es zwar weniger um den Schnee des letzten Jahres, sondern um denjenigen der letzten Woche, aber was soll’s? – Das immer gleiche Wesen der zerrinnenden Zeit begleitet uns in allem, was wir tun und erleben, im Gestrigen, Letztjährigen oder den Überbleibseln vergangener Jahrhunderte, zu denen mich meine Wanderung zum Luzerner Lido und zum Verkehrshaus der Schweiz führen wird.
Die Idee für einen Besuch im Verkehrshaus – dem ersten seit vielen Jahren – entstand, als mir vor kurzem die Post den neuen Mitgliederausweis des Vereins Verkehrshaus der Schweiz zustellte.
Es muss um das Jahr 1960 gewesen sein, als ich zusammen mit einem Freund mit dem Velo nach Luzern gefahren war, um das am 1. Juli 1959 eröffnete Museum erstmals zu besuchen.
Darüber später mehr. – Noch wandere ich durch Meggen, bin eben von der Habsburgstrasse nach rechts in die Lerchenbühlstrasse eingebogen und erblicke zwischen dem kahlen Geäst alter Bäume die Silhouette eines Schlosses mit Turm und Zinnen. Mit etwas Fantasie könnte man sich die alte Burg vorstellen, welche die Habsburger im 13. Jahrhundert zur Kontrolle ihrer Untertanengebiete von Küssnacht und Umgebung gebaut hatten. Allerdings hat die Feste die Gründung der alten Eidgenossenschaft nicht lange überlebt; nach verschiedenen Angriffen wurde sie schliesslich 1352 von den Eidgenossen definitiv zerstört. Ob die Burg Gesslers Ziel gewesen wäre, als er auf seinem Ritt durch die Hohle Gasse von Tells Pfeil getroffen worden ist?
Natürlich ist es weder die alte Habsburg, welche hinter den Bäumen in den Winterhimmel ragt, noch hat, wie uns die von falschem Patriotismus geläuterte Geschichtswissenschaft lehrt, jener Tyrannenmord in der Hohlen Gasse je stattgefunden. Es sind die Umrisse des 1871 in neugotischem Stil errichteten Schlosses Neuhabsburg. Von der alten Habsburg sind nur noch einige Mauerreste übrig.
So wird es wohl dereinst auch der Neuhabsburg gehen, denke ich im Stillen, als ich etwas später auf der Naumatthalde durch ein neues Quartier wandere. Hier liegt – bildlich gesprochen – der Neuschnee von heute, eine wahre Orgie protziger Geschmackslosigkeiten, wie sie in der reichen Schweiz in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Ein Mann mit Hund kommt mir entgegen und mustert mich misstrauisch. Vielleicht denkt er an das Plakat der Polizei, auf dem die Anwohner zur Zusammenarbeit bei Begegnungen mit verdächtigen Gestalten aufgefordert werden. Ich grüsse betont freundlich und freue mich insgeheim, das Villenquartier bald hinter mir zu wissen. Rechts führt ein Feldweg zu einer kleinen Anhöhe. Als ich eine Geländekuppe überquere, liegt unter mir, mitten in einem kleinen Rebberg, ein Märchenschloss. Für einen Moment wähne ich mich nicht an den Gestaden des Vierwaldstättersees, sondern an der Loire oder in einer englischen Parklandschaft. Nur die Reben würden dazu nicht passen.
Das Schloss Meggenhorn liegt an einer von Felsen durchzogenen Geländenase, welche den Übergang von der Luzerner Bucht ins Küssnachter Seebecken markiert. Hier entstand schon anfangs des 17. Jahrhunderts ein herrschaftlicher Landsitz. Die Liste der verschiedenen Besitzer, welche sich im Laufe der Zeit immer wieder neue architektonische Träume erfüllt hatten, ist eindrücklich. Seine jetzige Form erhielt das Schloss in den Jahren 1868/70. Comtesse Amélie Celeste Marie Heine-Kohn, welche zusammen mit ihrem Gatten Armand Heine das Schloss 1886 erworben hatte, liess vom Luzerner Architekten Heinrich Viktor von Segesser eine Schlosskapelle in neugotischem Stil erbauen. Vorbild soll die Kapelle von Schloss Amboise an der Loire gewesen sein (also doch!). Auch die über fünf Meter hohe Christusstatue, welche den Schiffspassagieren unterwegs von Luzern nach Weggis bei der Landungsstelle Meggenhorn entgegenschaut, wurde von der Comtesse errichtet, zum Dank für die Genesung nach schwerer Krankheit.
Im Jahre 1974 ging das Anwesen an die Gemeinde Meggen über, samt der Welte-Philharmonie-Orgel, welche auch als Musikautomat bespielt werden kann. Die Sammlung von gelochten Papierrollen soll u. a. auch durch den Organisten und Komponisten Max Reger eingespielt worden sein. Seither steht das Schloss im Sommer als Museum für die Öffentlichkeit zur Verfügung und kann auch für private Veranstaltungen gemietet werden.
Schnee von heute oder Schnee von gestern, wenn auch künstlich präpariert wie heutzutage unsere Skipisten? – Ich fühle mich der Gegenwart seltsam entrückt, als ich nördlich vom Schloss auf einem schmalen Pfad weitergehe. Ein Chalet, an dem auf einem Wegweiser eine kleine geschnitzte Holzfigur mit Armbrust ins Weite blickt, bringt mich aus der Welt der Comtessen in die biedere Schweizer Wirklichkeit zurück. Das Chalet Rippertschwand, lese ich auf einer Tafel, sei 1920 als Gärtnerhaus als Teil der Parkanlage Rippertschwand erstellt worden, im Inventar der schützenswerten Kulturobjekte der Gemeinde Meggen eingetragen und Eigentum der «Stiftung Rippertschwand». Diese – so lese ich auf ihrer Webseite – «steht im Dienste der Erhaltung und Verwaltung von Park, Gebäuden und Anlagen auf der Liegenschaft Rippertschwand in Meggen für die Bedürfnisse von betagten Menschen sowie von Menschen mit geistigen oder körperlichen Gebrechen infolge von Krankheit, Unfall oder Invalidität.» Ich gestehe, dass mir beim Betrachten eines kurzen Werbefilmes durch den Kopf ging, hier handle es sich um ein Refugium für Superreiche aus dem In- und Ausland. Wie falsch solche stereotypischen Urteile doch sein können. Neugierig durchforschte ich den Webauftritt von «traversa», einem Unternehmen, das die Villa Rippertschwand sowie mehrere andere Liegenschaften in den Kantonen Luzern, Ob- und Nidwalden zur «Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit einer psychischen Erkrankung» nutzt, zu durchaus vernünftigen Preisen, wie die veröffentlichte Preisliste zeigt, und liess mich eines Besseren belehren.
Die Habsburger, die Adligen, die Neureichen und schliesslich die psychisch Leidenden – in weniger als einer Stunde kann man auf der Meggener Halbinsel verschiedene menschliche Höhen und Tiefen durchschreiten … Doch jetzt wird es höchste Zeit, das Schreiten auf mein eigentliches Ziel auszurichten. Ich gehe jetzt dem nordöstlichen Ufer des Luzerner Beckens entlang. In Wartenfluh sind drei Arbeiter daran, ein steiles Dach neu zu decken – mir schwindelt nur schon vom Zuschauen –, während draussen auf dem See der Katamaran «MS Bürgenstock» von Kehrsiten kommend nach Luzern unterwegs ist. – Wie viel schöner ist doch die elegante Wasserlinie eines Raddampfers, denke ich im Stillen!
Bei der Hermitage führt der Wanderweg auf die Staatsstrasse Nr. 2, Teil der einstigen Nord-Süd-Achse von Basel über den Gotthard nach Chiasso. Eigentlich hatte ich geplant, hier den Bus bis zum Verkehrshaus zu nehmen, aber da ich diesen gerade verpasst habe, wandere ich stoisch auf dem schmalen Trottoir weiter, eingeklemmt zwischen dröhnenden Lastwagen und den hohen Mauern der Villen mit Seeanstoss. Nur die malerische Schiffstation «Seeburg» bringt etwas Romantik in die düstere Strassenlandschaft.
Nach ein paar hundert Metern ist der Spuk vorbei. Ich gehe durch einen kleinen Park auf das Gelände des Seebads Lido, das ausserhalb der Badesaison allgemein zugänglich ist, und weiter entlang des nicht enden wollenden Garderobengebäudes mit seinen unzähligen nummerierten Kabinen. Es gibt nichts Nostalgischers als eine Badeanstalt im Winter! Nicht Schnee und Eis vom vergangenen Winter liegen hier, sondern die Träume des vergangenen Sommers, das Kreischen der Kinder im Wasser, das Geflüster der Verliebten, der Duft der Sonnencrème der Sonnenhungrigen, der sich diskret mit den Ausdünstungen der WC-Anlage vermischt …
Jetzt stehe ich endlich vor dem Verkehrshaus, dem liebsten Museum meiner Jugend. Zum Glück finde ich unter all den Tausend Karten, welche man heute im Portemonnaie mit sich herumschleppt, meinen Mitgliederausweis. Er trägt die Nummer 1518, was mich ein bisschen stolz macht – fast wie einen Autobesitzer mit vierstelliger Autonummer. Heute hat der Verein 36’000 Mitglieder.
Nach einem schnellen Imbiss im Restaurant, wo leicht nervöse Väter und Mütter ihre Kinder unter Kontrolle zu halten versuchen, gilt – wie immer – mein erster Gang der Bahnhalle. Es hat sich wenig verändert seit meinem letzten Besuch vor vielen Jahren. Noch immer stehen sie hier, die Veteranen der Schweizer Bahnen, von der Dampflokomotive der Waldenburgbahn über das Krokodil vom Gotthard bis zum roten Zahnradtriebwagen der Altstätten–Gais–Appenzell-Bahn, einst das Modernste vom Modernen, heute Schnee von gestern, der nur deswegen überlebt hat, weil einem Museum gleichsam die Funktion einer riesigen Tiefkühltruhe zukommt.
Neben dem Gewohnten ist hier vieles im Umbau, auch die Modelleisenbahnanlage, welche die nördliche Gotthardrampe mit der Schlaufe bei Wassen darstellt. Wie wenn der Liebe Gott sein Werk renovieren wollte, steht ein Rohrgerüst in der Miniaturlandschaft. Ich spüre eine leise Enttäuschung und realisiere plötzlich, dass auch ich Schnee vom vergangenen Jahr bin, denn ich kann jene grenzenlose Faszination, welche mich vor sechzig Jahren jeweils bei Besuchen im Verkehrshaus überfallen hatte, nicht mehr heraufbeschwören Sollte man Jugendträumen unangerührt lassen?
Im Innenhof stehen zwei ausgediente Flugzeuge der Swissair (Schnee von gestern), eine winzig wirkende DC-3 und daneben die riesige DC-8. Kaum zu glauben: Mit der DC-3 bin ich, es war ein Geschenk meiner Tante Elisabeth, im Jahr 1956 von Basel nach Zürich-Kloten geflogen. Der Flug dauerte 40 Minuten. Das Rollfeld des damaligen Flugplatzes Basel-Blotzheim war noch mit jenen Lochblechen belegt, welche die Allierten während des Krieges zum schnellen Bau von Flugplätzen benützt hatten. Kurz nach dem Start holte mich die Stewardess ins Cockpit, wo ich den ganzen Flug erleben durfte und erst kurz vor der Landung – wir schienen schon fast die Tannen zu touchieren – wieder auf meinen Platz zurück musste.
Und schliesslich, versteckt hinter der DC-8, entdeckte ich das Tauchboot «Auguste Piccard», das Augustes Sohn Jaques anlässlich der Expo 64 für Publikumstauchgänge im Genfersee konstruiert hatte. Es war ein ziemlicher Flop, denn anders als im Meer gibt es in einem See unter Wasser wenig Spektakuläres zu sehen ausser rostigem Zivilisationsmüll. Ich erinnere mich an die grossen Erwartungen, welche damals in der Presse in diese Tauchfahrten gesetzt worden waren. Und jetzt döst Jaques Piccards Schnee vom vergangenen Jahr unbeachtet in einer Ecke des Verkehrshauses vor sich hin. Der Anblick stimmt mich wehmütig.
Genug der Nostalgie! Die Heimfahrt mit dem Voralpenexpress über den Sattel bringt mich in die Gegenwart zurück. Als hinter Samstagern erstmals der Zürichsee auftaucht, erinnere ich mich an meine persönliche Begegnung mit Jaques Piccard. Es war 1984, als ich als Seenforscher Gelegenheit erhielt, mit ihm in seinem Forschungs-Tauchboot «F. A. Forel» an die tiefste Stelle des Zürichsees (136 m) zu tauchen. Für die Forschung war es kaum ein Meilenstein, aber Piccards Enthusiasmus für die Sache wirkte inspirierend und ansteckend.
Vielleicht ist das überhaupt die Lehre meines Ausflugs nach Meggen, dass man als Mensch nicht davor zurückschrecken darf, etwas Neues zu wagen, auch wenn einem die Erfahrung sagt, dass auch dieses Neue dereinst Schnee vom vergangenen Jahr sein wird.