Die Grüne Zone von Bagdad, in der sich Regierung, Parlament und viele Botschaften befinden, wird von Mauern und Stacheldrahtverhauen von der Aussenwelt abgeschirmt. Am Samstag haben Tausende Anhänger des Schiiten-Führers Muqtada Sadr die Absperrungen überwunden und sind ins Parlament eingedrungen.
Tagelang hatten sie vor den Mauern ausgeharrt und erklärt, sie würden so lange dort bleiben, bist eine Regierung aus „ehrlichen Technokraten“ eingesetzt werde. Diese soll nach Ansicht der Sadr-Leute die bisherige irakische Regierung ersetzen, die nach einem Proporz der Religionsgemeinschaften und Ethnien zusammengesetzt ist.
Kampf gegen jede Reform
Der Proporz in der Regierung bedeutet, dass jene Religionsgemeinschaft, jede Ethnie und jede Partei - und sei sie noch so klein - Anspruch auf ein Ministerium hat. Besetzt werden die Ministerien von Leuten, die wenig Ahnung vom Regieren haben, aber der richtigen Religion, Ethnie oder Partei angehören. Aus diesem Grund sind sie wenig effizient. Und aus diesem Grund auch greift die Korruption um sich.
Die Ministerien sind eigentlich nur dazu dazu, um der Partei, die sie kontrollieren, Geld und bürokratische Posten zuzuschanzen. Auf diese Privilegien wollen die Parlamentarier nicht verzichten und sträuben sich gegen jede politische Reform. Vor allem kämpfen sie dagegen, dass die Ministerien künftig von unparteiischen Technokraten geleitet werden.
al-Abadi sind die Hände gebunden
Muqtada Sadr ist der Anführer Zehntausender Schiiten, die in den Elendsquartieren von Bagdad hausen. Er ist es, der an der Spitze des Kampfes gegen die Korruption der Parlamentarier steht.
Auch Ministerpräsident al-Abadi will nichts Anderes. Doch die Mehrheit der Parlamentarier blockiert jede Reformbestrebung. Sie fürchten nicht nur ihre Posten zu verlieren, sondern auch den Einfluss über ihre Anhänger.
Blockierende Parlamentarier
Am Freitag war Muqada Sadr, begleitet von den Spitzen seiner Partei, allein in die Grüne Zone vorgedrungen. Seine Anhänger lagerten zu Tausenden vor den Mauern und Stacheldrähten, und er forderte sie auf, dort auszuharren. Sadr wurde von Ministerpräsident al-Abadi empfangen und überreichte ihm eine Liste von neunzig nicht parteigegundenden Persönlichkeiten. Diese seien bereit, so Sadr, als ehrliche Minister zu dienen, sogar ohne Lohn.
Doch die Parlamentarier sind es, die die Minister bestimmen. Am Samstag war das Parlament erneut zusammengetreten, um über die Bildung einer neuen Regierung zu beraten – doch man konnte sich nicht einigen. Oder anders gesagt: Die Parlamentarier hintertrieben die Bildung einer neuen Regierungsmannschaft.
Ausnahmezustand
Dies war für die Sadr-Anhänger der Anlass zum Sturm auf die Grüne Zone. Sie drangen ins Parlamentsgebäude ein, sezten sich auf die Bänke der Parlamentarier und machten Selfies. Von anderen Sadr-Anhängern wurden sie aufgefordert, Ruhe und Disziplin zu wahren.
Die wenigen Abgeordneten, die sich zu der Sitzung eingefunden hatten, ergriffen die Flucht. Die Eindringlinge erklärten, alle Politiker seien Diebe; seit 13 Jahren würden sie das Volk bestehlen. Einige der Demonstranten beschädigten Autos der Parlamentarier. Die Polizei und Wächter des Parlamentes widersetzten sich nicht. Später traf die Sonderpolizei ein und setzte Tränengas ein. Anschliessend wurde in Bagdad der Ausnahmezustand ausgerufen. Alle Zufahrtstrassen zur Stadt wurden blockiert.
al-Abadi bei den Demonstranten
Die Ordner der Sadr-Anhänger versuchten die aufgebrachten Demonstranten zu beruhigen. Diese riefen zu einem neuen Protestlager auf, diesmal innerhalb der Grünen Zone direkt vor dem Parlament und neben dem Sitz des Staats- und Ministerpräsidenten. Auch viele Botschaften und Gesandtschaften befinden sich in der Nähe, so die amerikanische, die britische und jene der Uno.
Als die aufgebrachte Menge sich beruhigte, begab sich al-Abadi selbst - umgeben von Leibwächtern - in die Grüne Zone und forderte die Demonstranten auf, die Belagerung des Parlaments zu beenden. Er bot ihnen an, auf den Plätzen innerhalb der Grünen Zone zu demonstrieren.
Grosse Welle des Volkszorns
Muqtada Sadr befand sich am Samstag in Najaf, einer heiligen Stadt der Schiiten. Von dort aus sprach er im Fersehen und erklärte, er gedenke sich für zwei Monate aus der aktiven Politik zurückzuziehen. Er hat dies schon früher öfters getan, wenn ihm daran lag, die erregten Gemüter seine Anhänger zu beruhigen.
Er betonte aber, er und seine Anhänger würden jede Regierung ablehnen, die aufgrund des bisherigen Proporzsystemes gebildet wird. Er warte darauf, dass eine grosse Welle des Volkszorns alle Korruption hinwegfegen werde.
Schwacher al-Abadi
Am Freitag waren die Schiiten in Aufruhr geraten, nachdem ein Autobomben-Anschlag nördlich von Bagdad den Tod von 23 schiitischen Pilgern verursacht hatte. Der „Islamische Staat“ hat die Verantwortung für das Attentat übernommen.
Ministerpräsident al-Abadi wirkt zurzeit wie das schwächste Glieder einer Kette. Auf der einen Seite zerren die Sadr-Anhänger und auf der andern die schiitischen, sunnitischen und kurdischen Politiker, die das Proporz-System beibehalten wollen. Dazu kommt, dass im Hintergrund der frühere Ministerpräsident Nuri al-Maleki seine Fäden zieht. Er war von al-Abadi entthront woden. Jetzt versucht er Rache an ihm zu nehmen und hofft möglicherweise, selbst wieder an die Macht zurückzukehren.