„Wir warten noch immer auf unseren ersten schwarzen Präsidenten“, schrieb Fredrick Harris Anfang Juni in einem Meinungsbeitrag der „Washington Post“. Der Artikel des Politologen der Columbia University drückt aus, was etliche Schwarze Amerikas gefühlt haben dürften, nachdem am 10. August ein weisser Polizist in Ferguson (Missouri) einen unbewaffneten schwarzen Teenager erschossen hatte. Eine von der Familie des Getöteten in Auftrag gegebene Autopsie ergab, dass der 18-jährige Michael Brown von insgesamt sechs Schüssen, davon zwei in den Kopf, getroffen worden war.
Härter gegen Schwarze?
Am 19. August erschossen zwei Polizisten in Ferguson den 25-jährigen Kajieme Powell. Den Ordnungshütern zufolge hatte sich der Schwarze ihnen mit einem Messer in der Hand bis auf rund einen Meter genähert und sich geweigert, auf Warnungen hin die Waffe fallen zu lassen. Powell, den Augenzeugen des Vorfalls als „verwirrt“ beschrieben haben, trafen angeblich ein Dutzend Schüsse. Auf CNN verteidigte der Polizeichef von St. Louis das Vorgehen seiner Untergebenen mit dem Hinweis, in einer „letalen Situation“ würden „nicht-letale Methoden“ wie etwa der Einsatz eines Tasers unter Umständen nicht genügen: „Es war eine letale Situation und sie übten todbringende Gewalt aus.“
Nun ist es nicht entfernt so, dass ein amerikanischer Präsident die Taktik eines lokalen Polizeikorps beeinflussen oder gar bestimmen kann. Nach der Wahl Barack Obamas 2008 hatten aber wohl etliche Amerikaner gehofft, der erste schwarze Mann im Weissen Haus würde etwas ändern, was die Lage jener Minderheit betrifft, der er selbst angehört. Eines der auffälligsten Symptome dieser Lage ist Statistiken zufolge der Umstand, dass Polizei und Justiz in Amerika gegenüber Schwarzen ungleich härter vorgehen als gegenüber Weissen. Was in Ferguson geschah, ist in den USA eher die Regel als die Ausnahme.
Wer in den Vereinigten Staaten lebt, kann sich zumindest gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein schwarzes Leben weniger wert ist als ein weisses. In Washington DC zum Beispiel hält sich die Aufmerksamkeit lokaler Medien eher in Grenzen, solange Schwarze in ihren Armenvierteln ermordet werden, häufig als Folge von Drogengewalt. Intensiv aber ist das Interesse, sobald ein Weisser in einem wohlhabenden Quartier der Hauptstadt getötet wird. Wo im einen Fall Kurzmeldungen genügen, erscheinen im andern ganze Serien.
Obamas Geschichte vom „Wunderbaby“
Fredrick Harris erinnert in der „Washington Post“ an den Kandidaten Barack Obama, der im Juni 2007 bei einem Auftritt in einer Turnhalle der Hampton University in Virginia vom „Wunderbaby“ sprach. Dessen schwangere Mutter war 1992 während der Rassenunruhen in Los Angeles auf dem Weg zu einem Lebensmittelladen von einer Kugel in den Bauch getroffen worden. Das Geschoss blieb im Arm des ungeborenen Kindes stecken. Mutter und Kind überlebten die Notoperation, das Baby mit einer lebenslangen Narbe am rechten Ellbogen – „Ausdruck der Narben, welche die Rassenungleichheit den armen Schwarzen Amerikas schlägt“.
Barack Obama, in den Vorwahlen gegenüber Hillary Clinton im Hintertreffen, war laut Professor Harris damals bemüht, afroamerikanische Stimmen zu gewinnen. Er tat dies, indem er über die Rassenungleichheit im Lande und darüber sprach, mittels welcher Gesetze oder Massnahmen sie zu beseitigen wäre: „Wenn mehr Schwarze im Gefängnis als an unseren Colleges und Universitäten sind, dann ist es höchste Zeit, die Kugel zu entfernen! …Wenn wir unsere Kinder weiterhin an zerfallenden Schulen schicken, wenn wir weiterhin im Irak Krieg führen, einen Krieg, der nie hätte bewilligt und geführt werden dürfen…dann ist es Zeit, diese Kugel herauszuschneiden.“
Kein Superheld
Den Obama, wie er als Präsidentschaftskandidat war, gebe es nicht mehr, schliesst Fredrick Harris. Er regiere aufgrund einer Strategie, die Themen, welche für Afroamerikaner besonders wichtig seien, ausser Acht lasse, so zum Beispiel die Ungerechtigkeiten bei der Strafverfolgung, die Krise der Häusermarktes und die Zwangsversteigerungen, die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen oder die Aidsplage: „Weit davon entfernt, Schwarzamerika grösseren Einfluss in der US-Politik zu verschaffen, signalisiert Obamas Aufstieg ins Weisse Haus den Niedergang einer Politik, die darauf abzielt, die Rassenungleichheit frontal zu attackieren.“
Indes warnt ebenfalls in der „Washington Post“ Leitartikler Jonathan Capehart davor, nach den Tötungen in Ferguson unrealistische Erwartungen zu hegen, was die Reaktion Barack Obamas betrifft. Der Präsident der Vereinigten Staaten, schreibt Capehart, habe zwar überwältigende Machtmittel und Verantwortlichkeiten. Ein Superheld zu sein, gehöre aber nicht dazu. Wer angesichts der schlimmen Bilder aus Missouri vom Präsidenten erwarte, etwas Drastisches zu tun, tue ihm Unrecht: „Diese Leute ignorieren, was er tatsächlich tut, was und wieviel er in Wirklichkeit tun kann.“
Sinkendes Durchschnittseinkommen für Schwarze
Ohne Zustimmung des Kongresses (der noch in den Ferien weilt), könne Barack Obama keine Gesetze erlassen oder revidieren, wie zum Beispiel jenes umstrittene „Programm 1033“ des US-Verteidigungsministeriums. Dieses erlaubt lokalen Polizeieinheiten seit den frühen 1990er-Jahren, kostenlos militärisch aufzurüsten, erst im „Krieg gegen Drogen“, später für einen allfälligen „Krieg gegen Terror“ auf amerikanischem Territorium. Dabei bietet die Armee der Polizei alles Mögliche an, von Sturmgewehren über Nachtsichtgeräte bis hin zu Panzerfahrzeugen, wie sie bei den Protesten in Ferguson zum Einsatz kamen.
Fakt ist, dass es seit der Jahrtausendwende der schwarzen Minderheit in Amerika erneut schlechter geht. Zwar sind die Durchschnittseinkommen aller Rassen und Ethnien gesunken, doch sind die Afroamerikaner am stärksten davon betroffen. 2012 war das Durchschnittseinkommen von Schwarzen im Vergleich zu jenem von Weissen auf 58.4 Prozent gefallen, ein gleich tiefes Niveau wie 1967.
Starke Fortschritte ab Mitte der 1960er Jahre
Mitte der 60er-Jahre hatte sich in der Folge der Bürgerrechtsgesetzgebung unter Präsident Lyndon B. Johnson die Lage der Schwarzen spürbar zu verbessern begonnen. Zum Beispiel wuchs der Anteil von Afroamerikanern über 25 Jahren, die eine High School abgeschlossen hatten, von unter 20 Prozent auf über 70 Prozent. Gleichzeitigte vervierfachte sich die Zahl Schwarzer mit einem College-Abschluss von 3 auf 12 Prozent.
Ähnlich nahm auch das schwarze Durchschnittseinkommen von 22‘974 Dollar im Jahre 1967 auf 30‘439 Dollar Anno 2000 zu, ein Zuwachs von 32,5 Prozent.
Zwar verdienten Afroamerikaner zur Jahrtausendwende im Vergleich zu Weissen immer noch lediglich 66,3 Prozent, doch war diese Zahl höher, als sie es 1967 mit 57,1 Prozent gewesen war.
Politischer Stillstand in Washington
Tempi passati. Studien zeigen, dass die Erfüllung des amerikanischen Traums für viele Bürgerinnen und Bürger heute in immer weitere Ferne rückt, für Afroamerikaner aber rascher. War die Armutsrate unter Schwarzen zwischen 1965 und 2000 von 41,8 auf 22,5 Prozent gefallen, ist sie seither erneut auf 27,2 Prozent gestiegen. Unter Weissen betrug der Zuwachs lediglich 3,2 Prozent.
Grund der Entwicklung ist laut Thomas B. Edsall von der „New York Times“ der politische Stillstand in Washington DC und der mangelnde Wille von Republikanern und Demokraten, Kompromisse zu suchen. „Dieser Umstand stellt sicher, dass wir heute keine vergleichbaren Initiativen mehr ergreifen oder jene Entwicklungen aufhalten werden, die schwarze Amerikaner im Vergleich zu Weissen zunehmend benachteiligen.“
67 Prozent Schwarze in Ferguson
Auch in Ferguson ist die Verschlechterung der Lebensumstände spürbar. War der Vorort von St. Louis mit seinen rund 21‘000 Einwohnern 1990 noch überwiegend weiss, so leben heute 67 Prozent Schwarze und 29 Prozent Weisse in der Stadt. Die politische Macht aber befindet sich nach wie vor fast ausschliesslich in weisser Hand: der Bürgermeister, der Stadtrat (mit Ausnahme eines Schwarzen), der Polizeichef und das für Schulen zuständige Gremium (abgesehen von einem Hispanic) sind alle weiss. Wobei die Politik via die Vergabe öffentlicher Aufträge auch wirtschaftliche Macht ausübt: Berücksichtigt werden in Ferguson in erster Linie weisse Anbieter.
Laut einer Studie der Bürgerinitiative „Better Together“ in St. Louis sind Verkehrsbussen und Strafgebühren eine der Haupteinnahmequellen von Orten wie Ferguson, wo sie einen Viertel des städtischen Einkommens ausmachen. Das zwingt lokale Polizeikorps dazu, unverhältnismässig viele Verkehrsbussen auszusprechen, worunter wiederum vor allem die schwarze Bevölkerung zu leiden hat. In Ferguson betrafen im vergangenen Jahr 86 Prozent der Personenkontrollen, 92 Prozent der Haudurchsuchungen und 93 Prozent der Verhaftungen Schwarze, obwohl die Polizei bei Weissen etwa mehr Drogen sicherstellte als bei Afroamerikanern.
Ideales Objekt für Schwarz-Weiss-Maler
Derweil nimmt die amerikanische Presse erstaunt zur Kenntnis, wie ausländische Medien auf die Erschiessung zweier Schwarzer in Ferguson und die dortigen Unruhen reagieren – nicht anders, d.h. nicht ausgewogener oder vorurteilsfreier, als es US-Medien im Ausland mitunter tun. So schreibt die russische Website „Svobodnaya Pressa“ in Anspielung auf die Proteste in Kiew vom „Afromaidan“ in Ferguson und interpretiert Amerikas „Rassenkrieg“ als Ausdruck von Heuchelei.
Das Online-Portal einer iranischen Fernsehstation zitiert einen afroamerikanischen Historiker, der von „institutionalisiertem Rassismus“ spricht und Amerika „einen gescheiterten Staat in Sachen Menschenrechte“ nennt. Und selbst Irans geistlicher Führer Ayatollah Ali Khamenei hat sich im Fall Ferguson via Facebook zu Wort gemeldet: „Seht, was sie der schwarzen Gemeinschaft in ihrem eigenen Land antun…Die Polizei kann jemanden töten, nur weil er dunkler Hautfarbe ist.“
Quellen: „The Washington Post“; „The New York Times“; The Independent”; “Aljazeera”; Wikipedia.