Wie weit muss und kann sich Europa selbstständig verteidigen? Nach Trump, dem chaotischen Rückzug von Biden und der Nato aus Afghanistan und der gestärkten Verteidigungsallianz „Aukus“ (Australien/UK/USA) gegen China, ohne Einbezug Frankreichs, stellt sich diese Frage erneut mit aller Dringlichkeit.
Was würde eine Europäische Sicherheitsallianz für das Verhältnis zur Nato bedeuten? Ist Frankreich, als nunmehr einzige EU-Macht mit globaler sicherheitspolitischer Bedeutung, bereit, seine Souveränität europäisch zu teilen? Ist Deutschland soweit, aus dem Schatten seiner Vergangenheit herauszutreten, um den ihm auf der Basis seiner Wirtschaft zufallenden Hauptteil an der strategischen Autonomie Europas zu übernehmen? Können die naturgemäss treuesten Atlantiker unter den EU-Mitgliedern (Osteuropa, Baltikum, Skandinavien) dazu bewegt werden, vermehrt auch sicherheitspolitisch auf Europa zu setzen? Würden Realität und speziell Perzeption vermehrter strategischer Autonomie für Europa dessen globale Hauptwidersacher – China und Russland – tatsächlich überzeugen? Mit der eingangs formulierten, vermeintlich klaren Frage stellen sich gleichzeitig komplexe Detailfragen, welche eine klare Antwort im Moment schwierig machen.
Französischer Furor
„Frankreich ist empört“ lauten die Schlagzeilen zum Vertragsbruch Australiens, eine ganze Anzahl fest bestellter französischer U-Boote nun doch nicht zu kaufen und dafür auf amerikanische „nuclear subs“ mit hoch entwickelter Technologie zu setzen. Die einen sagen, der französische Furor sei gerechtfertigt, nachdem Canberra offensichtlich wort- und vertragsbrüchig geworden sei und mit dem entgangenen Auftrag Frankreich an Bedeutung als pazifische Macht verliere. Die anderen weisen auf die natürliche Tendenz hin, dass Australien seine bereits starke Allianz mit der pazifischen Supermacht USA so entscheidend verstärke und Frankreich als rüstungstechnischer Partner traditionell schwierig sei.
Letzteres trifft wohl zu. Wenn Macron nun vom Zwang zu vermehrter strategischer „Autonomy“ Europas aufruft, sieht er nicht nur eine französische Führungsrolle dabei, sondern lässt (noch?) nicht erkennen, ob Paris seine aussen- und sicherheitspolitischen Kronjuwelen – den ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat, die Nuklearwaffen – eurokompatibel teilen könnte.
Deutsches Zögern
Deutschland als unumgänglicher EU-Partner Frankreichs verhält sich geradezu umgekehrt. Aus den bekannten historischen Gründen und um die zentralen Wirtschaftsmächte China und Russland nicht vor den Kopf zu stossen, zögert Berlin, die Deutschland naturgemäss zufallende Hauptrolle in der wirtschaftlichen und rhetorischen Unterstützung strategischer Autonomie für Europa zu übernehmen.
Entsprechend zäh gestalten sich die bilateralen Verhandlungen auf Regierungsseite und noch vermehrt zwischen den Rüstungskonzernen in beiden Ländern über ein für die strategische Autonomie Europas entscheidendes, allgemein als Make-or-break-Projekt apostrophiertes Abkommen zur nächsten Generation einer koordinierten Luftverteidigung. FCAS (Future Combat Air System). Dieses soll Kampflugzeuge, Drohnen und die Cyberorganisation der gesamten militärischen Kommunikation vereinen. Spanien macht bei FCAS ebenfalls mit; die EU-Mitglieder Italien und Schweden – mit eigenen respektablen Rüstungsindustrien – wollen sich demgegenüber mit Grossbritannien zusammentun für das Konkurrenzprojekt „Tempest“.
Entscheidung in Ost- und Nordeuropa
Dass Schweden mit der einzigen namhaften Rüstungsindustrie in der Region beim einfacheren Projekt, dem Nato-kompatiblen Tempest mitmacht ist kein Zufall. Auch wenn Stockholm aus historischen Gründen kein Nato-Mitglied ist, setzt es doch wie ganz Skandinavien auf die nordatlantische Allianzorganisation als Abschreckung mit Blick auf erneute russische Annexionsgelüste im Baltikum.
Das gilt noch vermehrt für die baltischen und die osteuropäischen Staaten. Sie sind, abgesehen vom ungarischen Irrlicht Orban, die treuesten Atlantiker in der EU mit vorbehaltloser Unterstützung der Nato – und dies aus guten historischen Gründen. Letztlich wird es von ihnen abhängig sein, ob und wieweit sich FCAS als Paradebeispiel für die strategische Autonomie der EU durchsetzt. Was wiederum nicht als striktes Entweder-oder zwischen Nato und europäischer Sicherheitsallianz gesehen werden muss.
EU und Nato
Denn strategische Autonomie bedeutet nicht notwendigerweise verteidigungspolitische Autarkie Europas. Eine solche erscheint weder auf absehbare Zeit machbar noch erwünscht. Auch wenn Macron von seiner Version einer strategischen Autonomie Europas spricht, weiss er, dass das energische französische Eingreifen gegen islamistische Rebellen in Mali nicht ohne direkte amerikanische Hilfe bei Lufttransport (Maschinen und Versorgung der Kampfflugzeuge mit Treibstoff in der Luft) und Aufklärung möglich wäre.
Vermehrte Autonomie wird also nicht bedeuten, dass Europa auf die Nato verzichten wollte und könnte. Sondern, dass einzelne sicherheitspolitische Aktionen – wie eben jene in Europas „near abroad“ in Afrika – vermehrt mit europäischen Mitteln durchgeführt werden. Dies erscheint umso wichtiger, weil unabhängig von zukünftigen Präsidenten im Weissen Haus der amerikanische „pivot to Asia“ sich fortsetzen wird in Reaktion auf die sich zuspitzende globale Konfrontation zwischen Washington und Beijing. Damit einhergehen wird eine allmähliche Reduktion der US-Militärpräsenz in Europa.
Europäische Rückversicherung
Die durchaus vorhandene Möglichkeit einer erneuten Wahl von Trump oder eines seiner Akolythen stellt den zweiten Grund dar, warum mehr europäische Autonomie als Rückversicherung gegen amerikanischen Isolationismus nötig erscheint.
Schliesslich wird ein handfester Beweis wie FCAS als Beispiel dienen, dass die moralische und wirtschaftliche Macht Europa auch sicherheitspolitisch gemeinsam Zähne zeigen kann. Dies primär im Hinblick auf aktuelle Perzeptionen in Beijing und Moskau, dass sich mit dem Wirtschaftshebel die EU leicht auseinanderdividieren lässt.
Postskriptum für Neutrale ...
Sich zwar vom Verteidigungsschirm der Nato schützen zu lassen, aber ohne sich organisatorisch zu verpflichten, ist für die historischen Neutralen in Europa bislang ohne weiteres gelungen. Schweden, Österreich und sogar Finnland, direkter Nachbar Russlands, sind auch nach der Implosion der UdSSR und damit des Warschauer Pakts der Nato nicht offiziell beigetreten. Die Schweiz schon gar nicht.
Sich an vermehrten europäischen Strategiebemühungen nicht zu beteiligen, wird für die historischen Neutralen Europas, zu denen nicht nur die eben erwähnten EU-Mitglieder, sondern auch die Schweiz gehören, ungleich schwieriger.
Erbsenzählerei eines Fachministeriums
Wie kann es ein europäisches Kernland wie die Schweiz rechtfertigen, an der gemeinsamen Verteidigung Europas, eingeschlossen aller seiner Werte, nicht teilzunehmen?
Die als europäischer Affront empfundenen Entscheide der schweizerischen Regierung, so der Verhandlungsabbruch mit Brüssel über ein Rahmenabkommen und – im vorliegenden Kontext ganz speziell – die Wahl eines US-amerikanischen Flugzeuges, gehen in die falsche Richtung, welche der Schweiz weder kurz- noch längerfristig politische Vorteile bringt: Trotz F-35 will die Biden-Regierung kein bilaterales Wirtschaftsabkommen mit der Schweiz. Und: auch von amerikanischer Seite wird seit langem auf die Notwendigkeit grösserer strategischer Unabhängigkeit Europas hingewiesen, wozu wir mit dem Kauf des Rafale oder des Eurofighters beigetragen hätten. Statt strategischer Ausrichtung einer gesamtheitlichen schweizerischen Aussenpolitik haben wir einmal mehr Erbsenzählerei eines Fachministeriums erlebt.
Dagegen verblasst allfällige schweizerische Beteiligung an europäischer Militär-Sanität, wie sie Verteidigungsministerin Amherd eben in Brüssel in Aussicht gestellt hat. Das reicht nicht.