„Als ob der Himmel auf die Erde fiele“, kommentiert später ein Augenzeuge. Zwei Millionen Kubikmeter Eis und Geröll stürzen ins Tal. Es ist 17.15 Uhr am 30. August 1965. Dreissig Sekunden dauert das Getöse.
Der Abbruch des Allalingletschers begräbt 88 Arbeiter unter sich. Sie arbeiteten auf der Baustelle des Mattmark-Staudamms im hintersten Saastal im Wallis.
Unter den 88 Toten befinden sich 56 Italiener, 23 Schweizer, vier Spanier, zwei Deutsche, zwei Österreicher und ein Staatenloser.
Catastrofe annunciata
„Morire a Mattmark“ heisst ein jetzt in Rom publiziertes Buch *). Darin erhebt der Italiener Toni Ricciardi schwere Vorwürfe gegen die Schweiz. Ricciardi ist Assistent und Dozent an der Genfer Universität: am Institut de recherches sociologiques. Sein Spezialgebiet ist die Migration.
Der Autor wirft den Staudamm-Verantwortlichen vor, die Sicherheit auf dem Bauplatz aus Profitgründen vernachlässigt zu haben. Die Emigranten seien als billige Arbeitskräfte missbraucht worden. Vor allem stösst er sich daran, dass niemand für das Unglück zur Verantwortung gezogen wurde.
Mattmark sei eine Katastrophe gewesen, die sich angekündigt hatte („catastrofe annunciata“). Die Temperaturen waren in den Tagen vor dem Abbruch gestiegen und es hat stark geregnet. Hätte man also die Baustelle räumen und die Gletscherzunge untersuchen sollen? Nichts geschah.
Baracken am Fusse des Gletschers
1965 arbeiteten in Mattmark 700 Menschen. Die Arbeitsbedingungen seien hart gewesen. „Geschuftet wurde bis zu 16 Stunden am Tag, auch am Sonntag“. In der Nacht herrschten auf 2000 Metern Höhe Temperaturen von bis zu 30 Grad unter Null.
Die Arbeitslager seien hierarchisch organisiert gewesen. Techniker, Verantwortliche und Spezialisten wohnten in vorfabrizierten Wohnungen weiter unten im Tal. Die Arbeiter hingegen hausten in Baracken am Fusse des Gletschers. „In jeder Baracke waren hundert Leute untergebracht“, erinnert sich einer, „aber ich kann mich nicht beklagen, denn es ging uns gut dort, es gab eine Küche und ein Radio.“
„Am einzig möglichen riskanten Ort“
Die meisten italienischen Fremdarbeiter stammten aus der norditalienischen Stadt Belluno, aber auch aus dem Friaul, Kalabrien, Sardinien und Apulien.
Die Baracken und der Essraum befanden sich direkt dort, wo der Gletscher abbrach. Und sollte er abbrechen, konnte er nur hier abbrechen. Das heisst: Die Baracken befanden sich „am einzig möglichen riskanten Ort“, schreibt Ricciardi.
Es waren „einzig wirtschaftliche Gründe“, weshalb das Arbeitslager dort gebaut wurde. So wurden Zeit und Kosten für die Autobus-Transporte gespart. Dann, während des Infernos, wurden Lastwagen, Autobusse und Bulldozer „weggeblasen wie Blätter im Wind“. Wäre der Gletscher während des Schichtwechsels eine halbe Stunde später abgebrochen, so wären 600 Menschen ums Leben gekommen, schreibt der Autor.
„Menschliche Verantwortung: null“
Ricciardi kritisiert die Arbeit der Untersuchungskommission. Siebzehn Personen wurden vor dem Visper Bezirksgericht der fahrlässigen Tötung angeklagt: Direktoren, Beamte, Ingenieure, Techniker. Der Prozess fand erst 1972 statt. Weshalb erst sieben Jahre nach dem Unglück? Alle Angeklagten wurden freigesprochen. Man habe nicht vorhersehen können, dass der Gletscher abbrechen könnte, heisst es in dem Urteil. „Menschliche Verantwortung: null“, kritisiert Ricciardi.
Der Staatsanwalt rekurrierte. Doch das Kantonsgericht in Sitten bestätigte das Urteil der ersten Instanz. Zudem legte es den Familien die Hälfte der Verfahrenskosten auf. Das war vielleicht nicht die feine Art, um die aufgeladene Stimmung zu beruhigen.
Riesiges Medienecho
Ricciardi spricht von einem „politischen Urteil“. „Die Führungsspitze verurteilen, würde heissen, ein System verurteilen“.
Das Unglück löste ein riesiges Medienecho aus. 200 Journalisten aus ganz Europa reisten nach Mattmark. Selten zuvor in der Schweiz wurden Behörden derart kritisch unter die Lupe genommen wie damals. War Mattmark eine Geburtsstunde des non-gouvernementalen, kritischen Journalismus?
Die Zeitungsberichte und Fernsehreportagen haben auch erstmals einem breiten Publikum die wenig erfreulichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fremdarbeiter nähergebracht. Mattmark hat vieles verändert. Aus den Fremdarbeitern wurden nach und nach Gastarbeiter.
Peinlich für die Schweiz
Das Unglück löste eine beispiellose Solidaritätswelle aus. Selbst der Papst kondolierte. Gewerkschaften, das Rote Kreuz, Zeitungen und Privatpersonen sammelten Geld. In kurzer Zeit kamen über viereinhalb Millionen Franken zusammen. Der italienische Staat bezahlte die Verfahrenskosten, die das Sittener Gericht den Angehörigen auferlegt hatte – peinlich für die Schweiz.
Die Katastrophe habe den „Mythos von der helvetischen Effizienz“ zerstört, schreibt der 38-jährige Autor. Mattmark bedeute das Ende einer profitorientierten laissez-faire-Politik in Sachen Sicherheit am Arbeitsplatz.
„Arrogante, grausame“ Schweiz
Die Hälfte aller italienischen Emigranten sei damals in die Schweiz gekommen. Das habe eine fremdenfeindliche Stimmung angeheizt. Zudem habe sich während des kalten Krieges in der Schweiz ein paranoider Antikommunismus entwickelt. Ausländische Arbeiter seien verdächtigt und observiert worden. Die Schweiz habe den ausländischen Arbeitskräften viel zu verdanken, sei jedoch wenig freundlich mit ihnen umgegangen.
Die Toten von Mattmark, schreibt Ricciardi, bestätigten das Image einer undankbaren Nation, die sich „arrogant und grausam“ gegenüber den Fremdarbeitern verhielt - sie, die mithalfen, das schweizerische BIP in wenigen Jahrzehnten zu verdoppeln.
Das Buch tischt auch einige Klischees auf. Es waren ja nicht nur Italiener, die als billige Arbeitskräfte dem Tod ausgesetzt wurden. Immerhin starben auch 23 Schweizer. Es waren Arbeiter als solche - welcher Nationalität auch immer -, die den Gefahren ausgesetzt wurden. Die Gewerkschaften haben immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen. Doch zugegeben: Es war die Zeit, als die "gewinnorientierte Schweiz" vor allem billige, arbeitssuchende Südländer im Visier hatte.
Natürlich lassen sich nicht alle Schweizer gern von einem aus Süditalien (Kampanien) stammenden Autor die Leviten lesen. Schliesslich war es Italien selbst, sagen ausländerkritische Kreise, das die verarmten Italiener in die Schweiz trieb, auf dass sie endlich Arbeit fänden. Und das schweizerische "System" (Ricciardi) profitierte von ihrer Notlage.
„Wir sind doch nicht in Italien“
Mattmark war „die letzte Tragödie der italienischen Emigration“, heisst der Untertitel des Buches. Und Tragödien gab es mehrere: Neun Jahre vor Mattmark starben in der belgischen Kohlegrube Marcinelle bei Charleroi bei einem Feuerausbruch 262 Kumpels, viele Italiener. Nach dem Unglück, das auf ungenügende Sicherheitseinrichtungen zurückzuführen war, reisten 5‘000 italienische Fremdarbeiter aus Belgien ab.
Knapp zwei Jahre vor Mattmark ereignete sich 100 Kilometer nördlich von Venedig die "Katastrophe von Longarone" ("Strage del Vajont"). Dort, in der Provinz Belluno, starben am 9. Oktober 1963 2'000 Menschen, als Teile des Monte Toc in einen Stausee stürzten. Diese Katastrophe hatte auch viele italienische Arbeiter in Mattmark traumatisiert.
Als sie die Schweizer Verantwortlichen in Mattmark an Longarone erinnerten, erwiderten diese: „Hier kann das nicht passieren. Wir sind doch nicht in Italien.“
*) Morire a Mattmark, L'ultima tragedia dell'emigrazione italiana, Donzelli, 172 Seiten, 27 Euro.
ISBN: 9788868432263