Wenn sich die Muslimbrüder weiterhin und grundsätzlich gegen den ägyptischen Staat auflehnen, werden sie in den politischen Untergrund gezwungen. Dann wird die tiefe Spaltung der ägyptischen Gesellschaft weiterbestehen.
Beide Teile werden die Daseinsberechtigung der andern Seite nicht anerkennen. Beide werden ihre Gegner als Feinde behandeln und gegen sie ankämpfen. Wenn aber die politischen Grabenkämpfe andauern, wird der Übergang zu einem demokratischen System erschwert oder gar verunmöglicht.
Eine solch unsichere und unruhige Situation schadet vor allem auch der Wirtschaft. Dies wird dazu führen, dass die Zahl der Unzufriedenen weiter wächst. Sie werden demonstrieren und ihre Unzufriedenheit auf der Strasse ausdrücken. Natürlich wird sich ihr Protest gegen die herrschenden Mächte richten. Folge davon könnte eine Militärdiktatur sein – oder ein neuer Umsturz der pro-islamischen und islamischen Kräfte.
“Loyale Opposition“?
Der demokratische Aufbau, der für das kommende Jahr geplant und versprochen ist, kann nur gelingen, wenn es dem gegenwärtigen Regime gelingt, die Muslimbruderschaft zur Mitarbeit zu bewegen. Das jetzige Regime muss ein Interesse daran haben, sich zumindest mit der Mehrheit der Muslimbrüder zu versöhnen. Ziel wäre es, dass die Brüder als „loyale Opposition“ in der geplanten Demokratie mitwirken – in der Hoffnung, dass sie früher oder später eine Regierungsmehrheit erlangen könnten.
Wie sich die Dinge in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln, hängt einerseits von den Brüdern selbst ab. Anderseits aber auch von den heute herrschenden Kräften, also vor allem der Armee und den Richtern, die von der Armee protegiert werden – und natürlich vom neuen provisorischen Präsidenten. Auch er, Adli Mansur, der frühere Präsident des Verfassungsgerichts, steht unter dem Schutz der Armeeführung. Entscheidend wird zudem die Haltung der zivilen Kräfte sein, die noch zu ernennen sind und die Verantwortung für eine Übergangsregierung übernehmen werden.
“Usurpationsregime“
Die Brüder selbst haben zunächst eine sture Haltung an den Tag gelegt. Sie haben eine Einladung von Präsident Adli Mansur zunächst ausgeschlagen. Er hatte sie aufgefordert, „beim Aufbau der Nation mitzuwirken“. Sie erklärten, sie wollten mit einem „Usurpationsregime“ nichts zu tun haben und würden jede Mitarbeit „total“ verweigern. Am Freitag hatten sie zu einem Tag der friedlichen Demonstrationen "zur Bewahrung der Legalität" aufgerufen. Manche ihrer Demonstranten befinden sich noch immer vor der Rabaa al Adawiya Moschee in Nasr City, vor dem Präsidentenpalast und auf anderen wichtigen Plätzen in Kairo, wo sie am 30. Juni für Präsident Mursi demonstriert hatten.
Die Armee hat erklärt, sie dürften demonstrieren. Doch müsse die nationale Sicherheit gewährleistet bleiben. In der Praxis sieht dies so aus, dass Armeekräfte oftmals mit Panzern nur ein paar hundert Meter neben den Demonstranten Stellung bezogen haben. So soll „verhindert werden, dass Pro- und Anti-Mursi-Demonstranten zusammenstossen“. Die Muslimbrüder ihrerseits haben die Demonstranten aufgefordert, Gewalt zu vermeiden. Doch als das Gerücht umging, Mursi werde im Offiziersklub der Republikanischen Garde gefangen gehalten, war ein Teil der Pro-Mursi-Demonstranten nicht mehr zu halten. Soldaten, die eine Sperre errichtet hatten, drängten sie zurück. Da die Demonstranten nicht aufgaben und weiter vorstiessen, eröffneten Armee-Angehörige das Feuer. Es gab mindestens einen Toten und mehrere Verletzte. Später verjagten die Soldaten die Demonstranten mit Tränengas.
Festnahmen der Führer der Bruderschaft
Gleichzeitig haben die neuen Machthaber, das heisst die Armee, die Polizei und die Richter begonnen, die Spitzen der Bruderschaft festzunehmen. Neben Mursi wurden die führenden Politiker der Partei der Muslimbrüder in Gewahrsam genommen. Unter ihnen befand sich – zumindest zeitweise – auch der oberste Lenker der Bruderschaft, der verehrter „Führer“ Mohammed Badi'e und seine wichtigsten Berater. Insgesamt sollten bereits etwa hundert führende Muslim-Politiker festgenommen worden sein. Weitere zweihundert würden noch gesucht. Mohammed Badi'e jedoch erschien am Freitag vor den Demonstranten vor der Adwiya Moschee. Er erklärte in einer Ansprache, er sei bereit, mit den Offizieren zu verhandeln, jedoch erst dann, wenn Mursi wieder zum Präsidenten eingesetzt worden sei.
Die neuen Behörden haben erklärt, niemand werde ohne richterliches Mandat festgenommen. Den Festgenommenen wird offenbar „Aufhetzung zur Unruhe“ und „Beleidigung der Justiz“ vorgeworfen.
Die Politiker der säkularen Nationalen Rettungsfront, deren Wortführer Mohammed el-Baradei ist, haben erklärt, diese Festnahmen seien "ein Fehler". Sie sagten nicht wessen Fehler, doch können sie nur einen Fehler "der Militärs und der Sicherheitskräfte" gemeint haben. Baradei persönlich hat die Behörden aufgerufen, Mursi, den ehemaligen Präsidenten, mit gebührendem Respekt zu behandeln.
Der ausgesperrte Chefredaktor von al-Ahram
Die Fernsehstationen der Muslimbrüder wurden stillgelegt. Auch der Sender al-Jazeera, der in Ägypten den Brüdern nahesteht, verstummte. Die staatlichen Druckereien weigerten sich, das Blatt der Muslimbrüder zu drucken. In der seit Generationen verstaatlichten Zeitung al-Ahram, dem Prestigeblatt Ägyptens, sperrten die Redaktoren ihren Chefredaktor aus. Er war von Mursi-Regierung eingesetzt worden.
Die Festnahmen von Führungspersonen und die Stilllegungen der Pro-Mursi-Medien lassen sich vorläufig mit Sicherheitsgründen rechtfertigen. Ziel der Massnahme ist es zu verhindern, dass die Pro-Mursi-Medien die Bevölkerung zu Demonstrationen aufrufen und damit ein Blutvergiessen riskieren. Doch wenn diese Publikationsverbote andauern und sogar von Gerichten abgesegnet würden, könnten sie gefährliche Konsequenzen haben. Dann würden sie massgeblich die Unversöhnlichkeit der Muslimbrüder zementieren.
Das Epos um den Obersten Staatsanwalt
Das Epos um den Obersten Staatsanwaltes aus der Zeit Mubaraks, Abdel Meguid Mahmouds, hat ein für ihn rühmliches Ende gefunden. Mahmoud war mehrmals von Mursi abgesetzt und von den Verfassungsrichtern wieder eingesetzt worden. Er hatte auch mehrere Male seine Demission eingereicht und sie dann auf Zureden seiner Kollegen hin wieder zurückgenommen.
Nach dem 30. Juni wurde er erneut durch Gerichtsbeschluss eingesetzt. Sein Vorgänger, der von Mursi eingesetzt worden war, wurde entlassen. Mahmoud nahm den Posten an, reichte jedoch am 4. Juli seine Demission ein und bat um Versetzung in den Richterstand. Er begründete seinen Rücktritt damit, er sei unvermeidlich voreingenommen, wenn es um Anklagen gegen Mitglieder der Bruderschaft gehe, mit denen er bittere Auseinandersetzungen gehabt habe.
Inzwischen befasst sich bereits ein anderer Untersuchungsrichter mit Mohammed Mursi. Geprüft wird, ob der frühere Präsident die Bevölkerung aufgehetzt und die Justiz beleidigt habe.
** Ist Aussöhnung möglich?**
Die neuen Mächte haben die Möglichkeit, solche Untersuchungen einzustellen und die festgenommenen Spitzenpolitiker der Bruderschaft bald freizulassen. Möglicherweise kam Mohammed Badi’e in den Genuss dieser Politik.
Vom weiteren Verhalten der Bruderschaft wird abhängen, ob weitere festgenommene führende Muslimbrüder freigelassen werden. Ein Versöhnungsprozess müsste eingeleitet werden. Wenn er nicht stattfinden kann, weil die einen weiterhin ihre Mitwirkung verweigern und die anderen nicht genug tun, um sie umzustimmen, sieht es schwarz für die Zukunft Ägyptens aus.