„Es ist Geschichte geschrieben worden“, bemerkte CNN-Moderator Wolf Blitzer nach dem Ende der fast 100-minütigen Townhall-Debatte an der Washington University in St. Louis (Missouri). Diese Einschätzung war so übertrieben, wie es die ganze Präsentation des Anlasses durch den Nachrichtensender war, der etwa aufgeregt als „Breaking News“ vermeldete, die Familien Trump und Clinton würden den Veranstaltungsort verlassen und in der Tiefgarage in ihre SUVs steigen. Was sonst hätten sie tun sollen, im Saal übernachten?
Auch führte CNN, die zwei Moderatoren eingeschlossen, über ein Dutzend Experten ins Feld, welche die Debatte im Nachhinein analysierten und sezierten. Auffällig dabei, wie stets im amerikanischen Fernsehen, die aufwändig geföhnten, überwiegend blonden Frisuren der „politischen Kommentatorinnen“ – ein Umstand, der daran erinnerte, wie wichtig es in den USA ist, nicht nur als Kandidatin, sondern auch als Berichterstatterin am Bildschirm „bella figura“ zu machen. Als wären Fernsehtauglichkeit und nicht Sachverstand oder soziale Kompetenz die wichtigsten Kriterien für politischen oder journalistischen Erfolg. Amerika kennt Donald Trump nicht als Politiker, sondern nur als Star des Reality TV.
Trump, von keinerlei Selbstzweifeln belastet
An sich wäre St. Louis ein geeigneter Ort gewesen, um über die Zukunft der Nation zu debattieren. Wahrzeichen der Stadt am Mississippi ist der 192 Meter hohe Gateway Arch des finnischen Architekten Eero Saarinnen, ein riesiger Bogen aus rostfreiem Stahl, der an die Expansion des Landes nach Westen erinnert. An eine Zeit also, da Amerika noch voller Glauben, Optimismus und Tatendrang war und nicht jenes impotente, hoch verschuldete, sozialistische Drittwelt-Land, als das Donald Trump die USA karikiert, als eine Nation, die von Immigranten überflutet, von Drogen überschwemmt, von fremden Mächten ausgebeutet und von Terroristen sowie Verrätern bedroht wird.
Und für all das machte Donald Trump, von keinerlei Fachverstand oder Selbstzweifeln belastet, Hillary Clinton verantwortlich. Sie habe es in 30 Jahren politischer Tätigkeit – als Gouverneursgattin, als First Lady im Weissen Haus, als Senatorin und als Aussenministerin unter Barack Obama – schlicht versäumt, die Dinge zum Besseren zu wenden und Amerika wieder gross zu machen. So als gäbe es keine Gewaltentrennung, kein System von „checks and balances“, kein präsidiales Veto. Wobei Trump Clinton nicht nur politisches Versagen, sondern auch Charakterdefizite vorwarf: In St. Louis beschimpfte er sie wiederholt als „Lügnerin“, als Frau, die „enormen Hass im Herzen“ trägt, ja als „Teufel“. Sie rede nur, sagte er, aber sie tue nichts: „Es sind nur Worte, Leute.“
Wirr kurz angesprochen
Die Fernsehdebatte drehte sich erneut um Themen, die zuvor im Wahlkampf wiedergekäut worden waren: Trumps Verhältnis zu Frauen, seine geplanten Steuersenkungen, seine nicht veröffentlichte Steuererklärung, seine Nähe zu Wladimir Putin, sein Geheimplan, ISIS zu eliminieren, seine Islamophobie und anderes mehr – alles vom Kandidaten vage bis wirr kurz angesprochen oder propagiert, gewürzt mit Halbwahrheiten, Lügen und Schlägen unter die Gürtellinie.
Unentschiedene Wählerinnen und Wähler dürfte der New Yorker Milliardär so kaum auf seine Seite gezogen haben. Auch gilt zu beachten, dass in den USA die Briefwahl bereits begonnen hat. Erfahrungsgemäss machen rund ein Drittel der Stimmenden davon Gebrauch.
Taktik eines eingefleischten Diktators
Am erschreckendsten in St. Louis war wohl Donald Trumps Versprechen, er würde dafür sorgen, falls er Präsident wird, dass Hillary Clinton im Gefängnis landet – was einige Kommentatoren als Taktik eines eingefleischten Diktators taxierten, als Reflex, politische Gegner zu inhaftieren. Ungewöhnlich ferner, dass der Kandidat seinen Vize Mike Pence öffentlich desavouierte, als er bemerkte, er gehe mit dessen Einschätzung der Situation in Syrien nicht einig. Immerhin, hielt ein Beobachter ironisch fest, wisse Trump inzwischen im Gegensatz Gary Johnson, dem aussichtlosen Kandidaten der Libertären Partei, wer oder was Aleppo sei.
Nach Trumps Abschneiden in der Debatte gefragt, räumt Theaterautor Wajahat Ali In der „New York Times“ ein, dass es in Amerika tatsächlich etliche Leute gebe, die sich vernachlässigt vorkommen: „Sie haben das Gefühl, dass ihnen dieses Land nicht mehr gehört. Dies ist ein Amerika, das sie nicht mehr wiedererkennen. Es ist nicht mehr das Amerika ihrer Väter oder Grossväter. Die Dinge wandeln sich zu rasch und sie können nicht mithalten. Niemand kümmert sich um sie. Die Eliten lachen sie aus und behandeln sie von oben herab. Sie sehen sich als die ewigen Schurken, nur weil sie weiss, christlich, männlich sowie heterosexuell sind und der Mittelklasse angehören. Sie haben das Gefühl, dass die Privilegien, von denen alle reden, für sie nicht im Entferntesten gelten. Der amerikanische Traum ist für sie zu einem Alptraum in den Farben des Regenbogens geworden.“
Clinton, gefasster, ruhiger, souveräner
Im Falle Hillary Clintons kamen an der Washington University zur Sprache: Ihre verschwundenen E-Mails, ihre fürstlich honorierten Reden vor Wall Street-Firmen, ihre angeblichen aussenpolitischen Misserfolge (Libyen, Syrien, ISIS, Iran), Barack Obamas Gesundheitspolitik, die Untreue ihres Gatten, ihr angeblich mangelnder Einsatz für „law and order“, für die Durchsetzung von Gesetz und Ordnung. Wobei die Kandidatin Trumps Attacken in Sachen E-Mails und Reden nicht überzeugend konterte und sich teils in historischen Ausflüchten verlor. Sie verpasste es, dank mehr Offenheit und Transparenz zu punkten.
Trotzdem war Clinton im Vergleich zu ihrem Gegenüber gefasster, ruhiger und souveräner, was auch ihr Minenspiel verriet, das sie ungleich besser unter Kontrolle hatte als der gelegentlich schniefende, schnaubende und schmollende Trump. „Wir sind nicht so“, sagte Clinton zum Bus-Video von 2005, das ihren Gegenspieler als Frauenverächter und Grabscher entlarvt: „Wir sind gross, weil wir gut sind.“ Und sie zitierte Michelle Obama, die einst sagte: „Wenn die anderen tief sinken, streben wir nach Höherem.“
Kultur der Reality Show
„Die Substanz der Debatte hat klar gezeigt, dass die Amerikaner eine Wahl haben“, schliesst Schriftsteller Viet Thanh Ngyuyen, der aus Vietnam in die USA eingewandert ist: „Der Tonfall der Debatte aber widerspiegelte ironischerweise Mr. Trumps Kommentar: ‚Ich liebe Abschreiber.' Die USA, der Brand Amerika, hat als Folge dieses Wahlkampfs und dieser Debatten gelitten. Mr. Trump ist dafür zu einem grossen Teil verantwortlich, aber das sind auch alle Amerikaner, die auf unsere Kultur der Reality Show hereinfallen. Diese Kultur verdeckt die Aushöhlung der amerikanischen Wirtschaft, die wachsenden Grade der Verzweiflung, die auf lärmige Debatten verschoben werden, wer zu Amerika gehört und wer nicht.“
Nicht gesprochen wurde in St. Louis über Themen, welche die Nation ebenso sehr bewegen sollten wie Donald Trumps „Garderobengeschwätz“ oder Hillary Clintons „verschwundene“ E-Mails: die bröckelnde Infrastruktur, das Eliteuniversitäten zum Trotz ungenügende Bildungswesen, die Probleme der Strafverfolgung und der überfüllten Gefängnisse, die Folgen des Klimawandels, der Einfluss der Finanzwirtschaft auf die Politik, die ungeklärte Rolle von Geheimdiensten wie der NSA, die fatalen US-Drohnenangriffe und deren Auswirkungen in fremden Kriegsgebieten.
„Eine Kämpferin, die nicht aufgibt“
Immerhin schafften es Trump und Clinton am Ende der Debatte, sich die Hand zu schütteln, was sie zu Beginn der verbalen Auseinandersetzung unterlassen hatten. Zuvor hatten sich beide noch dazu äussern dürfen, was sie je am anderen respektierten – nicht eben das überwältigende rhetorische Schlussbouquet einer mit Sicherheit erneut viel beachteten Veranstaltung. Hillary Clinton erwähnte Donald Trumps Kinder, der seinerseits lobte seine Gegenspielerin dafür, „eine Kämpferin“ zu sein, die nicht aufgibt. Ein solches Fazit reicht nicht aus, um als „historisch“ zu gelten.