Der russische Uno-Botschafter Wassili Alexejewitsch Nebensja weist vor dem Uno-Sicherheitsrat jede russische Schuld am Massaker in Butscha von sich. Alles sei «inszeniert», die Ukraine hätte «keine Beweise» vorgelegt. Ein eben aufgetauchtes Video zeigt, wie die Russen einen Zivilisten erschiessen. Auch Zeugenaussagen und Satellitenaufnahmen bestätigen das russische Morden.
Die «New York Times» (NYT) hat ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie ein ukrainischer Zivilist, der in Butscha ein Fahrrad schiebt, plötzlich durch Schüsse aus einem russischen Schützenpanzer getötet wird. Das Video wurde von der NYT unabhängig verifiziert. Die Leiche des Mannes ist genau an jener Stelle gefunden worden, die im Video zu erkennen ist. Aufgenommen wurden die Bilder Ende Februar von einem ukrainischen Soldaten.
«Aus Vergnügen» gemordet
Der ukrainische Präsident Wolodmir Selenskyj hatte am Dienstag per Video-Schaltung schreckliche Bilder des Massakers in den Verhandlungssaal des Uno-Weltsicherheitsrates projizieren lassen. Botschafter Nebensja schaute sich die Bilder regungslos an. Selenskyj sprach davon, dass die russischen Soldaten «aus Vergnügen» gemordet hätten. Frauen seien vor ihren Kindern vergewaltigt worden. Menschen seien die Kehle durchgeschnitten und Gliedmassen abgeschnitten worden. Mindestens 400 tote Zivilisten seien aufgefunden worden. Der Bürgermeister von Butscha sagte, auf alles, was sich bewegte, sei geschossen worden. Die Russen hätten aus Rache gemordet, weil ihre Offensive gescheitert war.
«Alles gefakt»
Diplomaten erklären, der russische Botschafter habe im Uno-Sicherheitsrat beim Ablesen seiner Botschaft gehemmt und etwas hilflos gewirkt.
Russische Kreise erklären, bei den gezeigten angeblichen Toten habe es sich um Schauspieler gehandelt, die sich hingelegt hätten. Viele seien von den Ukrainern selbst umgebracht worden, um den Russen die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Die Russen hatten erklärt, die russischen Soldaten hätten «keinen einzigen Zivilisten» getötet. Erst nach ihrem Abzug Ende März seien die Menschen getötet worden. Satellitenaufnahmen des amerikanischen Technologie-Unternehmens Maxar zeigen jedoch, dass während der russischen Präsenz Leichen auf Strassen, Gärten und Hinterhöfen lagen. Das Massaker fand also während der Anwesenheit der Russen statt.
Butscha – «die Spitze des Eisbergs»
Das Morden in Butscha sei möglicherweise nur «die Spitze des Eisberges», erklärt die amerikanische Regierungssprecherin Jen Psaki. In vielen Gebieten, aus denen die Russen abziehen mussten, hätten die Ukrainer noch keinen Zugang. «Wahrscheinlich wurden auch dort Gräueltaten begangen», sagte Psaki.
Forderung nach einem Rauswurf Russlands
Selenskyj sagte, immer weitere Tote würden in Häusern und Hinterhöfen entdeckt. «Und das ist nicht alles», sagte er, «an anderen Orten werden wir ebenso Schreckliches vorfinden». Selenskyj forderte eine Reform der Uno und einen Rauswurf Russlands aus dem Weltsicherheitsrat. Die fünf ständigen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates, zu denen Russland und China gehören, können per Veto jede Resolution verhindern.
Auch am Dienstag wurden weitere Tote entdeckt. Viele wurden verstümmelt und mit Kopfschüssen niedergestreckt. Die Regierung in Kiew führt mit internationalen Journalisten Besichtigungen in Butscha durch. «Die Welt muss erfahren, was die Russen hier angerichtet haben», erklärt ein Mitarbeiter von Selenskyj.
400 Vermisste in Hostomel
Im Kiewer Vorort Hostomel werden 400 Menschen vermisst. Hostomel, ein 16’000-Einwohner-Städtchen, liegt nahe beim Flughafen und war in den ersten Kriegstagen hart umkämpft. Der Chef der lokalen Militärverwaltung, Taras Dumenko, sagte, die Behörden seien jetzt dabei, Keller in dem Ort zu inspizieren. Man könnte auch Leichen von Menschen nicht finden, von denen man wisse, dass sie getötet worden seien. Ein Grossteil der Einwohner war geflohen.
200 Tote in Borodjanka
Zum ersten Mal sind jetzt Hilfstrupps und Journalisten in die Kleinstadt Borodjanka nordwestlich von Butscha vorgestossen. Nach Angaben des Bürgermeisters liegen dort unter Schutt mindestens 200 Tote.
Noch immer keine Hilfe für Mariupol
Das IKRK, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, konnte noch immer nicht in die eingekesselte und stark umkämpfte südukrainische Stadt Mariupol vordringen und dringend benötigte Hilfe bringen. Aus Sicherheitsgründen hatte das IKRK mehrere Versuche abbrechen müssen, in die Stadt zu gelangen. Am Montag wurden nun Mitglieder des Rotkreuz-Teams am Rande der Stadt festgenommen. Sie wurden später wieder freigelassen. Das IKRK möchte nicht nur Hilfe bringen, sondern auch Zehntausende Bewohner evakuieren. Inzwischen gehen die schweren Kämpfe in Mariupol nach Angeben des britischen Geheimdienstes weiter. Zehntausende müssen ohne Strom, medizinische Versorgung, Licht und frischem Wasser auskommen. Nach Angaben von ukrainischen Beamten versuchen die Russen die Verteidiger der Stadt zur Kapitulation zu zwingen.
Angriffe im Osten
Nach dem Abzug der Kräfte im Norden verstärkt Russland seine Offensive im Osten des Landes. Die Ukraine hat nach Angaben der BBC ihre «erfahrensten Truppen» in die Region geschickt. Die russischen Streitkräfte halten inzwischen den grössten Teil von Luhansk und mehr als die Hälfte von Donezk besetzt. Sie versuchen langsam, die ukrainischen Streitkräfte einzukesseln.
Tausende Menschen aus dem Donbass sind laut BBC dabei, in den Westen zu flüchten. «Wir sind an einem 50 Meilen langen Stau vorbeigefahren, als wir in die entgegengesetzte Richtung fuhren – in Richtung der Kämpfe», sagt BBC-Reporter Jonathan Beale.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21