Schwungvoll kommt er aus der Kantine, biegt an der Treppe um die Kurve und elegant balanciert er das Tablett mit zwei Tassen Kaffee. Alle Achtung: gekonnt ist gekonnt. Oder vielleicht hat er mal einen Kellner auf der Bühne oder im Film spielen müssen? Stefan Kurts Auftritt sitzt jedenfalls. Er ist allerdings nicht für die grosse Bühne bestimmt, sondern nur für die Journalistin, die auf ihn wartet. Und er spielt auch keine Rolle, sondern ist einfach froh, sich nach der Probe einen Kaffee genehmigen zu können. Die Journalistin auch.
«Jakob von Gunten» im Schiffbau
Stefan Kurt probt im Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses «Jakob von Gunten», ein Stück nach dem Roman von Robert Walser. Es geht da um einen Zögling, der in einer Art Dienerschule ausgebildet wird. «Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen», klagt die Titelfigur Jakob von Gunten gleich zu Beginn dieser Geschichte, «wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein».
Was hat dieser Jakob von Gunten mit Stefan Kurt zu tun? Hundert Jahre liegen seit dem Erscheinen des Buches und der heutigen Aufführung und Stefan Kurt ist alles andere als «etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im Leben». Stefan Kurt denkt nach und nimmt einen Schluck Kaffee. «Ja sagen wir mal so … je länger ich mit diesem Jakob von Gunten zusammenarbeite, desto mehr hat er mit mir zu tun. Nicht mit mir persönlich, aber man kennt das doch, das Grundwesen des Menschen, diese Zerrissenheit, die Walser beschreibt in jeder seiner Erzählungen, wo es ums Helle geht und gleichzeitig ums Dunkle, dieses Nichtwissen, was als nächstes kommt, aus Sonnenschein steigen plötzlich Regenwolken auf … das kenne ich sehr gut. Ja und insofern kommt mir Jakob von Gunten immer näher.»
Walser steckt in all seinen Figuren
Für Stefan Kurt ist es nicht die erste Begegnung mit Robert Walser. Vor ein paar Jahren hat er ebenfalls im Schiffbau des Schauspielhauses in «Die Geschwister Tanner» mitgespielt. «Aber jetzt, beim Sich-wieder-mit-ihm-Beschäftigen, merke ich, dass Walser noch viel tiefer geht.» Was muss man denn beachten, wenn man sich als Schauspieler mit Robert Walser und seinen Texten befasst? Was ist die Krux bei Walser?
«Die Krux ist, dass man Walser nicht fassen kann», sagt Stefan Kurt. «Je mehr man sich mit Walser beschäftigt, und wenn man dann denkt: oh, jetzt weiss ich, wie er tickt, desto mehr merkt man, wie einem dieser Walser unter den Händen wegflutscht … Was mich bei Walser sehr berührt, ist diese Symbiose zwischen seiner eigenen Biographie und all seinen literarischen Figuren. Walser steckt in jeder seiner Figuren und er schreibt so aus dem Moment heraus, dass ich einen Satz lese und denke: das ist ein wunderschöner Satz, aber nach dem Komma stürzt der Satz … uahhhh … in die Hölle hinunter oder er steigt in den Himmel auf. Oder er mündet in eine Plattitüde, wo ich sage: halt, was willst du mir hier erzählen. Das ist ein Changieren zwischen taoistischen Wahrheiten, Gemeinplätzen, ganz feinen Beobachtungen und tief liegenden inneren Ängsten. Das geht so schnell und ist kaum fassbar. Als ich ‘Jakob von Gunten’ das erste Mal las, habe ich das Buch ziemlich schnell überflogen. Und jetzt, wo wir es auf die Bühne stellen und dramatisieren, merke ich, was für eine Sprengkraft dahintersteckt.»
Stefan Kurt und Jakob von Gunten und Robert Walser, das scheint tatsächlich ein interessantes Team zu sein. Kein einfacher Umgang, diese Beziehung des einen zum anderen, aber ein lohnender Kontakt. Sind denn die Walserschen Texte schwierig zum Lernen? «Oh ja …» kommt es bei Stefan Kurt mit einem Seufzer aus tiefster Seele. «Die Texte sind furchtbar schwierig. Ellenlange Sätze mit gefühlten 20‘000 Kommas und geradezu akrobatischen Sprachwendungen. Aber wenn man’s mal draufhat, ist es wunderbar, dann kann man drauf tanzen … die Sprache ist so vielschichtig, mit so vielen Nuancen, mit denen Walser immer wieder überrascht.»
Papa Moll als Slapstick
Ein ausgesprochenes Kontrastprogramm dazu war für Stefan Kurt die Verfilmung der Schweizer Comic-Reihe «Papa Moll». «Das war super», strahlt er. «Mir hat immer schon mal etwas Slapstickartiges vorgeschwebt und das hat echt Spass gemacht.» Papa Moll, rund und dick und mit nurmehr drei Haaren auf dem Kopf … und dann Stefan Kurt? «Wir haben ziemlich herumgetüftelt, aber bei den ersten Verwandlungsversuchen sah ich aus wie ein durchgedrehter, verkokster Typ. Das ging gar nicht.» Über den dicken Bauch und eine Frisur mit etwas mehr als drei Haaren hat man sich dann aber an einen Film-Papa-Moll herangetastet.
Stefan Kurt klickt auf seinem Handy herum. «Hier: so sieht Papa Moll jetzt aus! Eigentlich darf ich es ja noch nicht zeigen …», und er steckt es schnell wieder weg. Aber diese Version des Papa Moll wirkt ganz vertrauenserweckend. Kurz vor Weihnachten wird der Film dann auch seinen Weg auf die Kinoleinwand finden.
Bärndütsch – in Deutschland nicht verlernt
Stefan Kurt, der nach wie vor schönstes Bärndütsch spricht, lebt nun seit 30 Jahren in Deutschland. Unzählige Rollen hat er seither gespielt. Geprägt wurde er dabei vor allem durch Regisseure wie Jürgen Flimm, der ihn auch als jungen Schauspieler entdeckt und nach Deutschland geholt hat oder auch Bob Wilson. Vor über zwanzig Jahren hat Stefan Kurt unter Wilsons Regie in Hamburg «Black Rider» gespielt, die spektakuläre Rock-Version des «Freischütz» von Tom Waits. Oder später auch den Mackie Messer in der «Dreigroschenoper» im Brecht-Theater «Berliner Ensemble». «270 Vorstellungen sind es bis jetzt …», sagt er.
270 Vorstellungen im Laufe von zehn Jahren, das kann man sich fast nicht vorstellen … verleidet einem denn das nicht? «Manchmal schon … da denkt man nach der Vorstellung: ach, was soll das, es fällt doch alles auseinander und nach der nächsten Vorstellung ist es wieder super.» Aber Ende dieser Saison ist Schluss. Durch den bevorstehenden Intendantenwechsel beim Berliner Ensemble wird wohl auch Mackie Messer über die Klinge springen. «Und dann gibt’s wieder Speicherplatz für neue Rollen auf der Festplatte im eigenen Kopf …», meint Stefan Kurt lakonisch.
Grafik aus Fotos und Bilder zum Hören
Unabhängig von Bühne, Film und Fernsehen hat Stefan Kurt noch eine zweite künstlerische Liebe gefunden, mit der er gern fremdgeht: Fotografik, Hörbilder, Transformationen … nennt er das, was er in seinem Berliner Atelier macht. «Angefangen hat es eigentlich mit dem Mischen von Tönen, jetzt mische ich auch Farben und Bilder. Noch früher habe ich allerdings Dias aus ihrem Rahmen rausgeknübelt und übereinandergelegt.»
Es ist so eine Art künstlerischer Ausgleichssport zu seiner Tätigkeit als Schauspieler. «Hier kann ich alles selbst entscheiden und ein eigenes Produkt herstellen. Das finde ich schon sehr reizvoll und hätte nicht gedacht, dass es mich zunehmend stärker beschäftigt. Theater ist immer Gemeinschaftsarbeit. Und das ist auch sehr schön.» Ausstellen wird Stefan Kurt seine Fotografik-Werke im Herbst in Bad Zurzach, im Winter in Zürich.
Vorläufig dreht sich aber noch alles um «Jakob von Gunten» und die bevorstehende Premiere. Aber den druckfrischen Katalog seiner Bilder hat er auch schon griffbereit.
«Jakob von Gunten», nach dem Roman von Robert Walser
Schauspielhaus Zürich. Schiffbau/Box
Premiere: 20. Mai 2017