Unsere Zeit hat etwas Abgehobenes. Man sorgt sich nicht mehr „um“, sondern „über“ etwas. Umgekehrt ist man "über" etwas zufrieden, nicht mehr "mit" etwas. Man ringt auch nicht mehr "um", sondern "über" etwas, wie die NZZ am 30. Juni bezüglich eines Steuerabkommens der Schweiz mit der OECD meldete: „Über die konkrete Ausgestaltung wird noch gerungen.“
Kompromisse wiederum verlangen allen Beteiligten etwas ab. Kompromisse dienen Zwecken. Sie werden "für" etwas geschlossen, nicht "über" etwas, wie heute gern geschrieben wird: „Kompromiss über Vertriebenen-Gedenkstätte angenommen“ (FAZ, 30. August 2011)
Dem übermässigen Gebrauch der Präposition "über" entspricht das fast spurlose Verschwinden anderer Ausdrücke: "in Bezug auf", "im Hinblick auf". Sind diese Wendungen zu umständlich? Jedenfalls drücken sie Beziehungen und Bewegungen aus. Wenn alles nur noch „über“ ist, dann ist es einem selbst schnell über, also egal. Wie schrieb schon Goethe so schön? „Über allen Gipfeln ist Ruh.“ Goethe-Zitate passen eben über alles. Oder doch: zu allem? Mag sein. Hier jedenfalls war es völlig daneben.
S.W.
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