Seither wandern wir hie und da zusammen durch eine Gegend, welche in Daniels oder meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hat.
Die Freiberge, unser heutiges Ziel, waren für mich damals, als ich in meiner Kindheit von Zürich nach Basel „versetzt“ worden war, eine faszinierende Entdeckung gewesen. Schon das verwinkelte Birstal von Basel nach Delémont, durch das ich jetzt mit Daniel fahre, weckt alte Erinnerungen an Velotouren und Wanderungen.
Gründung des Kantons Jura vor 40 Jahren
In Glovelier, ein paar Stationen hinter Delémont, bevor die Bahn in den Tunnel nach St-Ursanne im tief eingeschnittenen Tal des Doubs eintaucht und weiter Richtung Porrentruy fährt, steigen wir aus. Diese Region kam erst durch einen Beschluss des Wiener Kongresses von 1815 von Frankreich zum Kanton Bern und hat sich, wie die Geschichte uns lehrt, in dieser seltsam unrealistischen Konstellation nie wohl gefühlt, bis im Jahre 1979 durch die Gründung des Kantons Jura eine eigene politische Heimat entstand.
Die Gegend in der nordwestlichen Ecke ist, vermute ich, den wenigsten Schweizern bekannt, und wenn doch, dann am ehesten vom Militärdienst auf dem Waffenplatz Bure im Pruntruter Zipfel, wie die Ajoie in der Deutschschweiz etwas despektierlich genannt wird. Und doch hatten und haben die Menschen hier ihre Pläne und Ambitionen – wie alle Jurassier diesseits und jenseits der schweizerisch-französischen Grenze.
Fusion zu den Chemins de fer du Jura (CJ)
So wurde Glovelier am Fuss der Freiberge im Jahre 1904 Ausgangspunkt einer normalspurigen Privatbahn, der Régional Saignelégier Glovelier (RSG), welche auf einer Länge von 25 Kilometer die 500 Meter Höhenunterschied zu den Jurahöhen bei Saignelégier überwindet und mit der man den Vieh- und Holztransport fördern wollte. Während des berühmten Pferdemarktes (Marché-Concours national de chevaux) verkehrten jeweils direkte Züge von Basel bis Saignelégier.
Allerdings war die durch dünn besiedeltes Gebiet führende Bahn von Anfang an eine grosse finanzielle Belastung für die beteiligten Gemeinden, so dass sie schliesslich nach dem Zweiten Weltkrieg – in desolatem technischen Zustand – auf Meterspur umgebaut, elektrifiziert und mit der Bahnlinie Saignelégier–La Chaux-de-Fonds und andern lokalen Privatbahnen zu den heutigen Chemins de fer du Jura (CJ) fusioniert wurde. Mit den direkten Verbindungen in die übrige Schweiz war es dadurch zwar vorbei, aber immerhin konnte die Bahnlinie damals gerettet werden.
Der Lokführer plaudert im Erstklasseabteil
Der moderne Triebwagenzug der CJ wartet neben dem Bahnhofgebäude. Er trägt den stolzen Namen „Le Paon-du Jour“, das Tagpfauenauge. Nur wenige Passagiere steigen ein. Im kleinen Erstklassabteil plaudern Mitarbeiter der Bahn, darunter auch der Lokführer. Plötzlich schaut er auf die Uhr, verschwindet im Führerstand, und schon setzt sich der kleine rote Zug in Bewegung.
In einer lang gezogenen Linkskurve fährt er in die Combe Tabeillon (Schlucht von Tabeillon). Kenner können der Trassierung der Strecke mit den grosszügigen Kurvenradien und der mässigen Steigung durchaus noch ansehen, dass hier einst normalspurige Züge verkehrten. Auch die grossen Querschnitte der kurzen Tunnels, durch die wir etwas später fahren, zeugen von der einstigen glorreichen Vergangenheit der RSG.
Eine Spitzkehre für die CJ
Immer enger wird die bewaldete Schlucht und immer näher rücken die Felswände zusammen. Der Höhenunterschied zum kleinen Bach im Talgrund schrumpft zusehends, so dass man sich schon Sorgen macht, wie das wohl weitergehen wird. Dann rumpelt der Zug über ein paar Weichen und hält an. Der Lokführer verlässt den Führerstand und geht durch den Zug nach hinten. Kurz danach fährt der Zug in umgekehrter Richtung weiter.
Auch die Spitzkehre von Combe-Tabeillon ist eine Reminiszenz der einstigen Normalspurbahn. Für eine S-Kurve, welche zur Überwindung des Höhenunterschiedes nötig war, fehlte in der engen Schlucht der Platz, und ein Kehrtunnel – wie beispielsweise am Gotthard – konnte man sich wahrscheinlich finanziell nicht leisten. Also baute man eine Spitzkehre. Etwa zwei Kilometer fahren wir wieder talauswärts, gewinnen dabei an Höhe, bis das Tal breiter wird und sich die Linie bei Foradrai in einer grossen Kurve wieder nach Südwesten in Richtung Saignelégier wendet.
Beschwingtes Wandern auf der Jurahöhe
An der Haltestelle La Combe steigen wir aus. Noch fehlen 9 Kilometer und 140 Meter Höhenunterschied bis Saignelégier, doch wir wollen auf der andern Seite der Schlucht nach Saulcy wandern.
Der Weg folgt zuerst ein kurzes Stück dem Strässchen Richtung Lajoux, an einer Gaststätte vorbei, welche sich stolz „Buffet de la Gare“ nennt, aber ausgerechnet dienstags geschlossen ist. Das stört uns nicht, schliesslich hat unsere Wanderung erst gerade begonnen. Noch wissen wir nicht, dass sich in unserem näheren Umfeld alle Restaurants darauf geeinigt zu haben scheinen, denselben Wochentag als Wirtesonntag zu deklarieren.
Wenige Meter nach dem Buffet de la Gare zweigt links, im hohen Gras nur schlecht sichtbar, ein steiler Pfad ab, der zum Wald hinauf und weiter auf eine Juraweide zu einem verlassenen Stall führt. Dass die Gegend hier „Sur les Roches“ heisst, verstehe ich erst zuhause, als ich noch einmal die Karte studiere. Tatsächlich wandern wir nun über einen Hügelkamm, der im Norden zur Combe Tabeillon und im Süden zum kleinen Tal ‚ „Envers des Combes“, durch steil abfallende Felsen begrenzt ist.
Hier oben, wo der Blick weit übers Land schweift, hinaus nach Frankreich, zum Delsberger Becken und weiter zum Passwang, wandert man beschwingt. Kein Mensch ist unterwegs, nur eine Kuherde und ein paar Pferde mit ihrem Nachwuchs treffen wir an.
„Fermé“ – mehr als ein Wirtesonntag?
Nach einer guten Stunde erreichen wir Saulcy. Das kleine Bauerndorf auf 900 Meter Höhe, dessen Bevölkerung – wie ich dem Internet entnehme – in den letzten zweihundert Jahren immer zwischen 200 und 300 Personen geschwankt hatte, bildet mit seinen knapp 8 Quadratkilometern noch immer eine selbständige Gemeinde. Seit meine Eltern in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit uns Kindern im voll gepackten Auto auf ungeteerten Strassen die nähere Umgebung des Dorfes auf der Suche nach einem Bauplatz für ein Ferienhaus erkundet haben, bin ich nie mehr hier gewesen. Mir kommt es vor, als ob sich seither wenig verändert hat. Nur die Strassen sind jetzt weniger staubig, und am Dorfrand stehen ein paar neue Einfamilienhäuser.
Von weitem fällt an erhöhter Stelle ein markantes Gebäude auf, an dessen Fassade wir beim Näherkommen voller Freude zwei grosse Schilder mit der Aufschrift „Hotel Bellevue“ und „Restaurant“ entziffern. Ein paar Gartenmöbel stehen unbenützt unter Kastanienbäumen, in deren Schatten man gerne ein Bier getrunken und einen Wurstsalat oder eine Bratwurst mit Pommes Frites gegessen hätte. Doch unsere Freude ist verfrüht. An der Türe prangt ein Schild: „Fermé“. Ein Blick in den Speisesaal lässt vermuten, dass damit mehr gemeint ist als nur ein Wirtesonntag.
Schicksal der kleinen Dörfer am Rande
Überhaupt wirkt das Dorf verlassen. Ob es hier überhaupt noch einen Laden gibt oder ein Postamt? Vor sechzig Jahren – soweit habe ich die Aussagen meiner Eltern in Erinnerung – muss das Dorf noch über eine vollständige Infrastruktur verfügt haben, obschon damals nicht mehr Leute hier wohnten als heute. Es ist die alte bittere Erkenntnis: Stärker als ein allfälliger Bevölkerungsschwund hat die individuelle Mobilität und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten für das Einkaufen und die Freizeit die kleinen Dörfer ihrer einstigen Aufgabe als Lebenszentren beraubt.
Doch zum Philosophieren ist jetzt nicht die richtige Zeit, denn unterdessen ist es heiss geworden, zu heiss, um mit leerem Magen und trockener Kehle den geplanten Weg über Undervelier und das Tal der Sorne nach Glovelier einzuschlagen. Stattdessen gehen wir nördlich von Saulcy über die Wiesen zum Waldrand hinab, welcher den Steilhang hinunter zur Schlucht von Tabeillon markiert.
Die Tritte, welche einst den steilen Weg begehbar gemacht haben, sind teilweise verfault, aber wir schaffen es trotzdem ohne Ausrutscher bis hinunter auf die kleine Waldstrasse im Tal, welche eine beliebte Route für Velofahrer zu sein scheint. Unerwartet in dieser einsamen Schlucht sehen wir jenseits des Baches plötzlich Bahngeleise, Weichen und Signale. Wir sind wieder bei der Spitzkehre von Combe-Tabeillon angelangt.
Doch noch ein Restaurant in Govelier
Der Weg durch das enge Tal bis nach Govelier zieht sich in die Länge. Zum Glück ist es hier kühler als oben auf den Jurahöhen. Einmal hören wir am linken Talhang das Geräusch eines Zuges. Für einen kurzen Moment leuchtet zwischen den Tannen das muntere Rot der Wagen der Chemins de fer du Jura auf. Am Ausgang der Schlucht treffen wir auf die ersten Häuser von Glovelier. Nun geht die Suche nach dem Wirtshaus wieder los. Von Wirtesonntag zu Wirtesonntag arbeiten wir uns langsam zum Bahnhof vor.
Als sich auch das Restaurant de la Gare abweisend zeigt, überlegen wir schon, den nächsten Zug ins benachbarte grössere Bassecourt zu nehmen, da winkt uns neben dem Bahnhof doch noch unerwartetes Glück: Auf der Terrasse des Café de la Poste sitzen Leute, Wandervögel und Bahntouristen aus der Deutschschweiz, welche auf der Suche nach Essen und Trinken schon vor uns erfolgreich gewesen sein müssen.
Bei Bier und mit Wurst und Ei üppig garniertem Salat sitzen wir noch für eine Weile in dieser seltsam fremden und doch so schweizerischen Welt, vergessen dabei unsere Diskussion über die aus dem Ruder laufende Gesundheitspolitik der Schweiz, gehen dann die wenigen Schritte zum Bahnhof – das Tagpfauenauge ist eben wieder aus Saignelégier eingetroffen – und lassen uns mit der S3 in einer knappen Stunde nach Basel zurückfahren. Ein Weltenwechsel, wie man ihn in so kurzer Zeit nur in der Schweiz erleben kann.