Der 1941 geborene New Yorker Künstler Joel Shapiro zählt mit Richard Serra zu den wichtigsten amerikanischen Bildhauern der Gegenwart. Dank guter Verbindungen seines Direktors Dieter Schwarz zur US-Kunstszene präsentiert das Kunstmuseum Winterthur nach Richard Tuttle und William Tucker erneut ein eminentes Werk aus diesem Umfeld.
Vor allem mit der 2016 hier gezeigten Arbeit „Formal Alphabet“ Richard Tuttles stehen die Figuren Shapiros in reizvoller Korrespondenz. Wie sein Vorgänger im Gigon-Guyer-Anbau des Kunstmuseums Winterthur bespielt auch Shapiro die Wände mit kleinformatigen Objekten, bei ihm Reliefs genannt (Abbildung oben). Im ersten Raum sind sie rundum in grosszügigen Abständen auf Augenhöhe montiert. Das so gebildete Kraftfeld spannt sich zwischen den verschiedenfarbigen kleinen Wandplastiken auf, die als Ankerpunkte wirken. Jedes der Wandreliefs ist aus roh gesägten Holzstücken zusammengefügt und bemalt, und bei allen gibt es kleine räumliche Irritationen, die erst auf den zweiten Blick sichtbar sind: eine verdeckte Nische, eine Öffnung, ein Zwischenraum. Die Dinge sind nicht genau das, was sie scheinen.
Im gleichen Raum stehen auf Sockeln drei zusammengesetzte Objekte aus Holz und Draht. Speziell mit Bezug auf diese Skulpturen bekannte der bei der Eröffnung anwesende Künstler sich dazu, seine Arbeiten nicht nur in der Auseinandersetzung mit modernen Bildhauern wie Alberto Giacometti und David Smith zu entwickeln. Bedeutsamer noch sei für ihn der Rückbezug auf die Bildhauerkunst des 18. und 19. Jahrhunderts. Mit einem seiner Exponate, „Study (20 Elements)“ von 2004, paraphrasiert Shapiro die grosse, heute im Musée d’Orsay aufgestellte Skulptur von Jean-Christohe Carpeaux, „La danse“ (entstanden 1865-69), die eine bewegte Geschichte der Skandalisierung und Vandalisierung hinter sich hat.
Wie das Werk, auf das die Holzskulptur referiert, ist Shapiros Studie eine Figurengruppe. Aus zwanzig Quadern gefügt, nimmt sie die Bewegtheit des Vorbilds auf. Mit Farben, Schräglagen, Grössenwechseln, Formenvielfalt und einer „wilden“ Montage, die dem Objekt einen scheinbar labilen Stand gibt, überträgt Shapiro die Dynamik von „La danse“ ins zerbrechlich und provisorisch anmutende Medium einer artistischen Bastelei. Shapiros Korrespondenz mit einem Exponenten der von den Modernen seinerzeit verachteten akademischen Kunst bezieht sich vor allem auf formale Aspekte. Die Art, wie Carpeaux mit Form und Raum, Licht und Schatten eine rauschhafte Bewegung erzeugt, wird ihm zur Inspiration.
Einen ganz anderen Shapiro trifft man in dem Raum, in dem kleinere Plastiken, fast alle aus Eisen, am Boden liegen. Ausgehend von der Grundform des reinen Quaders, gestalten sich diese vier Jahrzehnte alten Arbeiten zu elementaren Formen, die auch hier – wie bei den Wandreliefs – stets etwas komplizierter sind als sie prima vista erscheinen. Man muss sich zu ihnen hinunterbeugen, um sie richtig wahrzunehmen. Der quadratische Klotz hat an zwei Seitenflächen kleine Öffnungen. Wohin führen sie? Sind sie miteinander verbunden? Hat das Objekt ein unsichtbares Innenleben? Der stehende Quader mit der quaderförmigen Aussparung heisst „Chasm“ (Kluft). Woran erinnert das Ding? Ruft es nicht geradezu nach einer nützlichen Anwendung? Oder geht es doch eher um ein reines Spiel von positiver und negativer Form?
Bei allem Spielerischen, das nur schon mit den kleinen Formaten der Objekte ausgedrückt ist, hat das Ensemble in diesem Raum etwas Lastendes. Das Grau des Eisens und das vermutete enorme Gewicht der Gegenstände evozieren eine Strenge, die mit dem intellektuell-abstrakten Spiel in Spannung steht. Ein Besucher habe spontan von einer Bühne für Tragödien gesprochen, erklärt Dieter Schwarz.
Auf eine Bühne ganz anderer Art stossen die Besucher im Raum mit den gehängten Skulpturen. Diese aus bemaltem Holz und Draht gefertigten Objekte haben den Boden verlassen. Jeweils an einem Punkt aufgehängt, finden sie ihre Form und Position im Spiel zwischen der Elastizität ihrer Struktur und der Schwerkraft. Der nahe liegende Vergleich mit Calders Mobiles verdeutlicht die Eigenart von Shapiros gehängten Objekten: Sie sind keine Gleichgewichtsspiele; einmal zur Ruheposition gekommen, bewegen sie sich nicht mehr. Die farbigen zerbrechlichen Gebilde ergeben eine schwebende Compagnie, ein in der Luft angehaltenes Ballett. Skulptur wird zur räumlichen Zeichnung und spielt mit den Gattungsgrenzen der bildenden Kunst.
Als kühne Variation der schwebenden Plastik ist im letzten Saal die den gesamten Raum beanspruchende Arbeit „Float“ installiert: vier unterschiedlich grosse und verschiedenfarbig bemalte Bretter, die mit Fäden einzeln in den Luftraum des Saals gesetzt sind. Dieter Schwarz berichtet, „Float“ sei vor einigen Jahren in einer New Yorker Galerie in einem ganz anders gearteten Raum ausgestellt gewesen. Shapiro habe zur Frage, wie das Werk in Winterthur funktionieren könnte, gesagt: „I don’t know, let’s look.“ Dieses Nichtwissen sei für ihn Bedingung der Arbeit. Gemeinsam hätten sie für die vier Bretter die passenden Positionen gesucht, bis sie überzeugt waren, dass alle Teile „richtig“ im Raum lagen.
Für die Betrachterin ist „Float“ sichtlich ein pragmatisch-experimentierend auf ästhetische Wirkung hin installiertes Objekt. Obwohl die Fäden bewusst gut sichtbar sind und keine Illusion des Schwebens angestrebt ist, erzeugt „Float“ eine starke Faszination. Mit jedem Schritt des Betrachters verändert sich das Kunstwerk. Man kann es nicht anschauen, ohne Teil davon zu sein.
„Floor Wall Ceiling“ heisst die Ausstellung. Der Raum also ist titelgebend. Anlass dafür ist der Umstand, dass Joel Shapiro für seine Objekte tatsächlich Boden, Wände und Decke ganz unmittelbar benutzt. Der Titel drückt aber auch aus, dass Shapiros Kunstwerke in besonderer Weise mit dem sie umgebenden Raum interagieren. Genau dafür ist der von den Architekten Gigon Guyer gestaltete Anbau des Kunstmuseums Winterthur auf glückliche Weise geeignet. Joel Shapiro äusserte sich begeistert darüber und meinte, ihm gehe es mit der Art, wie er hier seine Werke präsentiere, auch darum, die Schönheit dieser Räume ins rechte Licht zu stellen.
Joel Shapiro: Floor Wall Ceiling, Kunstmuseum Winterthur, 11. Januar bis 17. April 2017. Im Februar erscheint der Katalog zur Ausstellung.