Klara Obermüller empfiehlt
Ijoma Mangold: Das deutsche Krokodil.
Fremder Vorname, deutscher Nachname, schwarze Locken, dunkle Haut: Seit Ijoma Mangold denken kann, hat sein Auftreten Befremden und Neugierde ausgelöst. Nun will er es selber wissen: woher er kommt und wer er eigentlich ist. Der als Literaturkritiker der „Zeit“ bekannte Autor ist das Kind einer Deutschen und eines Nigerianers, aufgewachsen in Heidelberg und, obwohl als „Mischlingskind“ stets aus dem Rahmen fallend, der deutschen Kultur aufs Innigste verbunden. Erst als der abwesende Vater nach Jahren wieder auftaucht und Ijoma Mangold auch seine afrikanische Familie kennenlernt, brechen die Fragen nach Identität und Zugehörigkeit auf. Eindeutige Antworten hat der Autor nicht auf Lager, und das macht sein Buch so menschlich und so notwendig in einer Zeit, da wieder einmal heftig darüber gestritten wird, wer denn zu Deutschland und zu Europa gehöre und wer nicht.
Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2017, 352 Seiten
Miroslav Nemec: Die Toten von der Falkneralm
Dass Schauspieler gerne mit ihren Rollen verwechselt werden und wahlweise als Ärzte, Kapitäne oder Kriminalkommissare durchgehen, ist nicht neu. Neu ist, dass einer daraus Krimis macht: Miroslav Nemec, bekannt als Ivo Batic im Münchner Tatort, ist zum Ermittler in eigener Sache geworden. Der Roman „Die Toten von der Falkneralm“ bildet den Auftakt. Mit „Kroatisches Roulette“ liegt eine erste Fortsetzung vor. Klug, witzig und nicht ohne einen guten Schuss Selbstironie spielt der in Kroatien geborene und in Bayern aufgewachsene Schauspieler die Idee durch, dass er anlässlich eines Krimi-Wochenendes in einem entlegenen Berghotel Zeuge eines Verbrechens wird und, weil ein Sturm alle Verbindungen ins Tal gekappt hat, die Aufklärung selbst an die Hand nehmen muss. Entstanden ist ein vergnügliches Verwirrspiel um Autor-Ich und Rollen-Ich, das so bald hoffentlich kein Ende nimmt.
Penguin, München 2018, 272 Seiten
Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun?
Über Schloss Rechnitz und das dort im März 1945 begangene Verbrechen ist schon viel geschrieben worden. Aber niemand tat es mit so viel innerer Beteiligung wie der Journalist Sacha Batthyany, Sohn eines Ungarn-Flüchtlings und Grossneffe jener Gräfin Margit Thyssen-Batthyány, die wegsah, als während eines ihrer Feste 180 Juden von lokalen Nazi-Grössen brutal niedergemetzelt wurden. Die Frage des Autors, die dem Buch den Titel gegeben hat, bleibt in der Schwebe, und auch die Rollenverteilung zwischen dem Journalisten Batthyany und dem Familienangehörigen Batthyany ist alles andere als klar. Aber es ist gerade diese Ambivalenz, die den Reiz des Buches ausmacht. Es wirft nicht nur einen erhellenden Blick auf ein Stück Weltkriegsgeschichte, sondern zwingt auch seine Leserinnen und Leser dazu, sich, gemeinsam mit dem Autor, der eigenen Verantwortlichkeit noch einmal neu zu stellen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 512 Seiten
- Urs Meier empfiehlt
Daniel Goetsch: Fünfers Schatten
Maxim Diehl, erfolgreicher Dramatiker mit Schreibblockade, trifft auf den alten Amerikaner Jack Quintlin alias Jakob Fünfer. Beiden dient die südfranzösische Insel Porquerolles als Refugium. Von dort greift die Story aus in die Berliner Theaterszene, ins Zürcher Drogenelend der späten Achtziger und in die Endphase des Zweiten Weltkriegs. Maxim reist zu einer autoritären Kommune, gerät in Rangeleien unentdeckter Bühnenstars und schlägt sich mit seiner verkorksten Familie herum. Das ist farbig erzählt und endet passend, indem keiner der vielen Handlungsknoten sich löst.
Roman, Klett-Cotta 2018, 270 Seiten
Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
Stamm baut ein Spiegelkabinett der Identitäten: Dem getrennten Paar Christoph (Ich-Erzähler) und Magdalena stehen Lena und Chris gegenüber. Die Namen deuten schon auf die Konstellation hin: Im jüngeren Paar trifft der Protagonist auf seine eigene Vita. Realistisches Erzählen und irreales Setting verstricken die Figuren in ein traumartiges Spiel, in welchem der Autor die Form des Romans an ihre Grenzen treibt. Doch im typischen Stamm-Sound der lakonischen Selbstdistanz finden die auseinanderstrebenden Erzählmodi zusammen und bilden ein ebenso rätselhaftes wie einnehmendes Stück Literatur.
Roman, S. Fischer 2018, 156 Seiten
Alexander Schimmelbusch: Hochdeutschland
Dass der Autor als Investmentbanker gearbeitet hatte, bevor er ausstieg und Romane schrieb, ist wichtig zu wissen. Er zeichnet das zynische Bild vom Herzen des Kapitalismus und peitscht die Story vorwärts zur populistischen Revolution. Victor, so der sprechende Name des Protagonisten, hat aus reinem Überdruss ein flammendes Manifest verfasst, das eine Obergrenze für Vermögen fordert. Sein mit allen politischen Wassern gewaschener Freund gewinnt damit die Wahlen und hievt Victor in die Position der grauen Eminenz. Beim krachenden Finale verschwimmen Game und Realität. Die freche, temporeiche, mit zahllosen Anspielungen aufgeladene Schreibe muss man mögen.
Roman, Tropen (Klett-Cotta) 2018, 214 Seiten
- Christoph Kuhn empfiehlt
Arno Geiger: Unter der Drachenwand
„Unter der Drachenwand“ heisst der Roman des Österreichers Arno Geiger und er handelt 1944 in einem Dorf in der Nähe von Salzburg. Der Ich-Erzähler, ein verwundeter, zur Rehabilitation beurlaubter Soldat, schildert ein Alltagsleben, das ereignisarme Normalität suggeriert, während doch der Krieg alles bestimmt. Eine leise, genaue, traumhaft schwebende Sprache eignet dem Roman.
Hanser Verlag 2018, 480 Seiten
Hernan Ronsino: In Auflösung
Hernan Ronsino, ein argentinischer Autor, der zur Zeit als „writer in residence“ in Zürich lebt, hat eine Romantrilogie über seinen Heimatort Chivilcoy geschrieben, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires. Jetzt ist in deutscher Übersetzung der erste Band der Trilogie erschienen – „In Auflösung“ (Band zwei und drei liegen übersetzt bereits vor). Zwei in die Jahre gekommene Männer treffen sich am Grill zum „asado“, dem rituellen Rindfleischessen, und erinnern sich. In starken Bildern wird, in einem Zeitraum von sechzig Jahren, eine Stadt im Niedergang beschrieben. Knapp, fragmentarisch wird erzählt, aus verschiedenen Perspektiven – ein Kurzroman, der es, an seiner Dichte gemessen, mit so manchem breit angelegten Wälzer aufnehmen kann.
Bilgerverlag 2018. Aus dem Spanischen übersetzt von Luis Ruby, 125 Seiten
Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten!
Will man eine authentische, überaus lebendige, leidenschaftliche, manchmal sarkastische Beschreibung des Lebens in der DDR lesen, dann muss man sich unbedingt die ausführliche Autobiografie vornehmen, die Wolf Biermann unter dem Titel „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ publiziert hat. Der Dichter und Sänger zeichnet akribisch seinen Werdegang zwischen West, Ost und wieder West nach, zeigt sich humorvoll, unterhaltsam, angriffig und scharfsinnig, eitel und einsichtig. Einzelne Lieder werden thematisiert, in Entstehung und Wirkung kommentiert. Eine Riesenschar von Menschen, denen der Autor verbunden war und ist, zieht durch das Buch. Der Sänger mit der grossen Stimme und der ebenso grossen Lust an der Provokation erweist sich in der Rolle des Autobiografen als souveräner Schilderer eines abenteuerlichen Lebens.
Ullstein Verlag 2017, 543 Seiten
- Ignaz Staub empfiehlt
Yavuz Baydar: Die Hoffnung stirbt am Bosporus
Auf dem Index der Pressefreiheit, den die Reporters Sans Frontières jedes Jahr erstellen, rangiert die Türkei auf Platz 157 – hinter Ruanda und vor Kasachstan. Der prominente türkische Journalist Yavuz Baydar, seit zwei Jahren erneut im Exil, zeigt auf, wie sich sein Land zwischen den Militärputschen von 1980 und 2016 verändert hat – von einem wirtschaftlich erstarkenden Staat westlicher Prägung hin zu einer sich abschottenden Autokratie unter Recep Tayyip Erdogan, der Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit mit Füssen tritt. Dabei macht der 62-jährige Autor nicht allein Präsident Erdogan und dessen AKP für den Niedergang der Türkei verantwortlich, sondern auch eine in sich zerstrittene Zivilgesellschaft.
Droemer Knaur 2018, 256 Seiten
Thomas Ott: Route 66
An Büchern und Bildbänden über die legendäre Route 66, die von Chicago nach Santa Monica führt, mangelt es nicht. Wer als Amerika-Besucher etwas auf sich hält, hat sie zumindest in Teilen selbst befahren – am liebsten mit dem Motorrad. Dass es trotzdem möglich ist, der Traumstrasse optisch noch Neues abzugewinnen, beweist der Zürcher Illustrator Thomas Ott. Seine kontrastreichen Schwarz-Weiss-Zeichnungen bescheren dem Betrachter ein völlig neues Seherlebnis und ziehen ihn mit wechselnden Perspektiven in Bann. Otts Illustrationen sind die einzigartige Chronik einer achttägigen Reise, die – wie könnte es anders sein! – mit einem Sonnenuntergang am Strande des Pazifiks endet.
Louis Vuitton Travel Book 2018, 168 Seiten
Hosam Katan: Yalla Habibi. Living with War in Aleppo
„Wenn hinten, weit, in Syrien, die Völker aufeinander schlagen”, liesse sich Goethes „Faust“ paraphrasieren angesichts des Bürgerkriegs zwischen Präsident Bashir al-Assad und dessen Verbündeten sowie den Aufständischen und deren Alliierten. Die erbitterten Kämpfe, die das Regime in Damaskus weitgehend für sich entschieden hat, sind heute nur noch ein fernes Donnergrollen, das einen kaum mehr irritiert. Bis man zum Bildband „Yalla Habibi“ des syrischen Fotografen Hosam Katan greift, der den erbarmungslosen Krieg in Aleppo hautnah verfolgt und unerschrocken dokumentiert hat. Katans Aufnahmen, ergänzt von Texten, sind von einer Eindringlichkeit, die einen aufrütteln und nicht mehr loslassen. Sie sind auch Ausdruck von Humanität unter widrigsten Umständen.
Kehrer 2017, 152 Seiten
- Stephan Wehowsky empfiehlt
Graeme Macrae Burnet: Der Unfall auf der A35
Der Krimi spielt in einem Kaff bei Strassburg: Ein Auto kommt von der A35 ab, landet im Graben, und der Fahrer ist tot. Nichts Besonderes, aber der Kriminalbeamte Gorski verguckt sich in die Witwe. Um mit ihr anzubandeln, beginnt er zu ermitteln. Nichts ist so, wie es zunächst schien. Auch Gorski sitzt auf einem Scherbenhaufen. Burnet ist ein Meister der psychologischen Miniaturen und Milieuschilderungen. Zudem erzeugt er untergründige Spannung. Bester Simenon! Auch der vorherige Roman, „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“, gehört ins Reisegepäck.
Europa Verlag, München 2018, 320 Seiten
Vladimir Nabokov: Verzweiflung
Der Roman „Verzweiflung“ von 1934 ist zu Unrecht weniger bekannt. Die Lesung Gert Westphals stammt von 1974. Auch Kenner Westphals werden hier von seiner grossen Kunst und seinem geradezu jugendlichen Temperament hingerissen sein. Er versteht es, die verschiedenen Ebenen, mit denen Nabokov ständig spielt, hörbar zu machen, die Ironie zum Klingen zu bringen und dabei die spannende Handlung zu verfolgen: Ein windiger Schokoladenfabrikant trifft unvermutet auf seinen Doppelgänger und ermordet ihn, um an die Prämie seiner Lebensversicherung zu kommen. Das geht natürlich gründlich schief.
Der Audio Verlag, Berlin 2018, 1 Mp3-CD, 411 Minuten
Ronen Bergmann: Der Schattenkrieg. Israel und die geheimen Tötungskommandos des Mossad
Israels gewaltsame Selbstbehauptung polarisiert. Das blendend recherchierte Buch von Ronen Bergman bietet Einblicke in die Methoden der israelischen Geheimdienste. Bergman hat über mehrere Jahre zahllose Interviews geführt. Seine detaillierten Schilderungen sind spannend, und man bekommt ein besseres Verständnis für das israelische Bedrohungsgefühl. Aber Ronen spart auch nicht an Kritik. John Le Carré schrieb dazu: „Sein Buch ist ebenso wichtig wie informativ und eine faszinierende Lektüre – egal, wie man persönlich über das Thema denkt.“
DVA 2018, 864 Seiten
- Gisela Blau empfiehlt
Anna Stern: Beim Auftauchen der Himmel
Die Autorin ist erst Mitte zwanzig, naturwissenschaftliche Doktorandin in Zürich, geboren in Rorschach am Bodensee, und ihr echter Name lautet Bischofberger. Das Pseudonym Stern passt sehr gut: Ihr Werk oszilliert brillant zwischen Stilen und Ereignissen, von der Beziehungskiste bis zum Psychodrama. Sie schreibt souverän über Lug und Trug, Fantasie und Träume. Die hohe literarische Qualität ihrer beiden ersten Romane hat sie derart bewahrt, dass sie für den Bachmann-Preis in Klagenfurt nominiert wurde.
Roman in 10 Erzählungen, Lectorbooks Zürich 2017, 376 Seiten
Werner Sonne: Jerusalem, Jerusalem
Zum 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel erzählt ein Roman die Schicksale von Menschen auf allen Seiten des Kampfes um ein umstrittenes Stück Land: Es sind Menschen der britischen Mandatsmacht, aus arabischen und jüdischen Dörfern, Radikale und Holocaust-Überlebende. Das Buch behandelt die Jahre 1947 und 1948. Zentral ist das Geschehen rund um das exponierte Hadassa-Spital mit arabischem und jüdischem medizinischem Personal. Die historisch relevanten Erzählstränge sind genau recherchiert: Der Autor ist ein renommierter deutscher TV-Journalist, der die Region und ihre politischen Perspektiven dank zahlreichen Besuchen gut kennt.
Tinte und Feder, 2018, 300 Seiten
Donna Leon: Heimliche Versuchung
Die venezianische Amerikanerin ist unermüdlich. Der 27. Fall von Commissario Brunetti spielt im herbstlichen Venedig ohne die vielen Touristen. Diesmal hat es der Ermittler nicht nur mit den Kanälen Venedigs zu tun, sondern auch mit Kanälen des Drogenhandels und der Gewalt. Betroffen ist die Familie einer Kollegin seiner Frau. Wie so oft ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Täterschaft, aber Brunetti lässt niemals locker. Kein Wunder, dass die nachhaltig spannenden Krimis von Donna Leon regelmässig verfilmt werden.
Diogenes Verlag Zürich, 2018, 320 Seiten
- Roland Jeanneret empfiehlt
Flurin Caviezel: Isch impfall wohr
Wo Flurin Caviezel auftaucht, kann Niculin nicht weit sein. So auch in seinem Geschichtenband «Isch impfall wohr», der unter anderen vor allem auch mehrere seiner Radio-Morgengeschichten jetzt zum Nachlesen enthält. Die feinfühligen Texte im Bündner Dialekt bringen einen gleich in Ferienstimmung, auch wenn die Lektüre nicht immer ganz leicht ist. Die beiliegende CD, die daran erinnert, dass Caviezel nicht nur Erzähler, sondern auch ein vielseitiger Musiker ist, löst allfällige Leseschwierigkeiten rasch auf.
Zytglogge-Verlag, 112 Seiten
Beat Kappeler: Staatsgeheimnisse
Ganz so sensationslüstern wie der Titel ist der Inhalt des Buches mit einem grossen Fragezeichen, das auf dem Umschlag Kopf steht, nicht. Und so belehrend, wie der Untertitel „Was wir über unseren Staat wirklich wissen sollten“ vermuten lässt, ist der Inhalt zumindest teilweise auch nicht. Immerhin wird da z. B. das Mysterium gelüftet, was sich im „geheimen“ Bundesratsbunker befindet, da wird auf das Kuriosum hingewiesen, dass unser Land auch ohne eigentliches Regierungsprogramm funktioniert. Oder der Etikettenschwindel „Milizparlament“ wird hinterfragt, wenn doch immer mehr Bundesparlamentarier zugleich noch Regierungsräte, Kantonsräte, Stadträte, StadtpräsidentInnen, Funktionäre und Lobby-Vertreter sind, so dass „viele dieser Parlamentarier von kumulierten Einkünften öffentlicher Ämter leben“. Eine anregende und unterhaltende Lektüre für all jene, die auch im Urlaub politische Themen im Auge behalten möchten.
NZZ libro, 144 Seiten
René Hildbrand: Schweizer Politik zum Lachen 2
Fragt ein gepflegter Politiker mit Krawatte einen Hippie: „Wann warst du das letzte Mal beim Coiffeur?“ Antwort: „Das ist schon lang hair.“ Der People-Journalist und TV-Kritiker René Hildbrand hat in einem zweiten Band 555 neue Sprüche, Anekdoten und Witze zusammengetragen, die sich auf unsere PolitikerInnnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beziehen. Die lange Liste der „Betroffenen“ geht von Matthias Ackeret über Silvia Blocher, Martin Candina, Anita Fetz, Petra Gössi, Erich Hess, Gianni Infantino, Natalie Ricki, Simonetta Sommaruga oder Claudio Zanetti. Der Illustrator Ted Scapa hat die bunte Auswahl kreativ illustriert – eine Ferienlektüre zum Blättern und Schmunzeln in der Hängematte.
Weltbild, 192 Seiten
- Reinhard Meier empfiehlt
Serhij Zhadan: Internat
Der in Charkiw lebende Schriftsteller und Rockmusiker Serhij Zhadan zählt zu den vitalsten und innovativsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartskultur. In seinem neuen Roman „Internat“ beschreibt er auf furiose und zugleich tief beklemmende Weise das Inferno des andauernden, aber von der Welt halb vergessenen Krieges im Donbass. Der Autor bietet keine Analyse über die Hintergründe dieses von Putins Russland mitgeschürten Kampfes. Er berichtet, wie der junge Lehrer Pascha, der ukrainisch unterrichtet und privat russisch spricht, diesen Krieg erlebt, während er seinen Neffen aus einem nahe gelegenen Internat herauszuholen versucht: Als ein alptraumhaftes Inferno von dumpfen Gefährdungen durch verschwommene Frontlinien, innerer Zerrissenheit zwischen Verzweiflung, Gleichgültigkeit und dem Bemühen um menschliche Würde.
Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018, 300 Seiten
Anne Hartmann: Ich kam, ich sah, ich werde schreiben. Lion Feuchtwanger in Moskau 1937
Im Dezember 1936 reiste der bekannte deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger von seinem französischen Exil nach Moskau, wo er während seines sechswöchigen Aufenthaltes von Stalin zu einem dreistündigen Gespräch empfangen wurde. Seine Eindrücke fasste er zusammen in einem Büchlein unter dem Titel „Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde“. Anders als André Gide, der zuvor eine ernüchternde Darstellung seiner Erfahrungen in der UdSSR veröffentlicht hatte, schrieb Feuchtwanger eine schwungvolle Lobrede auf die sowjetischen Gesellschaftsverhältnisse – und dies ausgerechnet im schlimmsten Terrorjahr von Stalins Herrschaft. Nun legt die Slawistin Anne Hartmann eine hochinteressante Dokumentensammlung vor, die die Hintergründe und Motive dieser irritierenden Machenschaft tiefer beleuchtet. In einem Moskauer Archiv entdeckte die Autorin die Aufzeichnungen von Feuchtwangers Übersetzerin Dora Karawkina, die die Aktivitäten und Kommentare des Schriftstellers für ihre Vorgesetzten zusammenfasste. Sie zeigen, dass Feuchtwanger von den Verhältnissen in der UdSSR keineswegs so überzeugt war, wie er es später in seiner Publikation behauptete. Bei allem Verständnis für die Hoffnungen des vom Hitler-Regime verfolgten Schriftstellers werfen die Glorifizierung Stalins und sein explizite Rechtfertigung der Moskauer Schauprozesse schwere Schatten auf Feuchtwangers Urteilskraft und Integrität.
Eine Dokumentation. Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 456 Seiten
Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Dieser Roman ist zwar bereits 1984 erschienen, aber im Strandkorb muss man ja nicht immer nur die letzten Neuerscheinungen lesen. Und falls man in den Sommerferien auf einer langen Autofahrt unterwegs ist, ist es ein starkes Erlebnis, sich das vom Autor selbst gelesene Werk per Hörbuch (6 CDs) zu Gemüte zu führen. Ransmayr erzählt die authentische Geschichte der „k. u. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition“ in den Jahren 1872 bis 1874. Damit verwoben ist die fiktive Geschichte von Josef Mazzini, der ebenfalls von heroischen Polarexpeditionen träumte und 1981 auf Spitzbergen verschwand. Am packendsten sind die Schilderungen des österreichisch-ungarischen Unternehmens mit dem Schiff „Admiral Tegetthof“, das zwei Jahre im Packeis stecken blieb. Die Mannschaft erleidet dabei unfassbare Strapazen. Und doch gelingt ihr bis auf den Maschinisten Otto Krisch die Rückkehr aus der Eishölle. Man staunt und fragt sich, weshalb Menschen sich auf der Suche nach Ruhm und Wissen sich auf derartige Risiken einlassen.
Fischer Taschenbuch, 288 Seiten
- Heiner Hug empfiehlt
Bruno Meier: 1291 – Geschichte eines Jahres
Dass am 1. August 1291 auf dem Rütli nichts geschah, wissen wir. Aber was geschah denn in jenem Jahr? „1291 war kein Jahr der Entscheidungen“, heisst es in dem Buch des Historikers Bruno Meier. „Wenn schon, sind Entscheidungen ein Jahr später gefallen. 1291 war auch nicht ein Gründungsjahr von irgendetwas, schon gar nicht der schweizerischen Eidgenossenschaft“. Dennoch zeigt Bruno Meier auf, dass das Jahr für die eidgenössische Geschichte von Bedeutung war. Chronologisch gegliedert beschreibt der Autor, was sich 1291 Monat für Monat ereignete. Mythen werden über den Haufen geworfen. Meier gelang eine wunderbare Chronik mit einem teils neuen Blick auf die Ereignisse. So spannend kann Geschichte sein.
Hier und Jetzt, Baden, 2018, 200 Seiten oder Kindle edition
André Holenstein, Patrick Kury, Kristina Schulz: Schweizer Migrationsgeschichte
Flüchtlingswelle, Asylmissbrauch, Masseneinwanderung, Europa macht dicht, Europa wird afrikanisiert – die Diskussionen um Migration und Flüchtlinge nehmen oft fast hysterische Züge an, und Populisten schlagen Kapital daraus. Doch in den aufgewühlten und emotionalen Debatten über Flüchtlinge und Migranten fehlen oft die Fakten. Die drei Autoren dieser ersten umfassenden Migrationsgeschichte der Schweiz liefern sie. Nüchtern zeigen sie auf, dass es schon vor Hunderten Jahren Streit um Migranten gegeben hat. Die Angst vor den Fremden zieht sich über Jahrtausende hinweg. Schon immer gab es „Populisten“, die diese Ängste bewirtschafteten. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch zur Versachlichung der emotionalen Debatten beiträgt. Wer in Diskussionen um das Thema Migration ernst genommen werden will, sollte dieses Buch gelesen haben.
Hier und Jetzt, Baden, 2018, 384 Seiten oder Kindle edition
Guy de Maupassant: Bel Ami
Vor 125 Jahren, am 6. Juli 1893, ist Guy de Maupassant gestorben – Anlass, seinen damaligen Weltbestseller „Bel Ami“ wieder zu lesen. Das Buch ist ein amüsantes Sittengemälde der höheren Pariser Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Da wird betrogen, intrigiert, da geht jede mit jedem und jeder mit allen. Es wimmelt von Dirnen. Der Aussenminister wird im Bett beim Ehebruch ertappt und versteckt sich unter der Bettdecke. Die Zeitungen, die Minister sind korrupt. Im Mittelpunkt steht ein gutaussehender junger Mann, der sich – dank Frauen – zum Chefredaktor einer Zeitung hochgeschlafen hat. Der Stoff wurde mehrmals verfilmt. Hat sich diese Gesellschaft so sehr verändert? Nur Kutschen und wallende Röcke gibt es nicht mehr. Ein fulminantes, leicht lesbares Buch, geeignet für den Strandkorb.
verschiedene Verlage, ca. 400 Seiten oder Kindle edition
... und zum Schluss – aus gegebenem Anlass – noch dies:
Georges Haldas: Die Legende vom Fussball
Das Büchlein des Genfer Schriftstellers Georges Haldas wurde vor bald 40 Jahren geschrieben. Gerade in den jetzigen fussballverrückten Zeiten ist es noch immer eine Perle: Kein Buch eines überheblichen Spielers, der glaubt, sich – via Ghostwriter – ein Denkmal setzen zu müssen. Georges Haldas liefert uns eine amüsante, anekdotenreiche philosophische Betrachtung dieses Spiels. Der Autor, als Knirps selbst am Ball, leuchtet in die Psyche des Publikums und in die verschiedenen Charaktere der Spieler. Zeig mir, wie du spielst, zeig mir, wie du dich während eines Matches verhältst, und ich sage dir, wer du bist. Fussball, ein Abbild des Lebens und der Gesellschaft. Immer wieder ging Haldas (1917–1989) ins Genfer Stadion, selbst wenn er gegen Ende seines Lebens „die Fäulnis verdammt, die neuerdings diesen Sport befallen hat“. Haldas hat mit diesem Buch bewiesen, dass er einer der besten und kreativsten Westschweizer Autoren ist. Schade, dass er in der deutschen Schweiz wenig bekannt ist.
pendo-verlag, Zürich, 180 Seiten, L’âge de l’homme, Lausanne