«Ach, Zeitgenössisches …» Berio? Ligeti? «Nee, das will ich nicht hören.» Die beiden Damen an der Abendkasse der Elbphilharmonie in Hamburg sind enttäuscht. «Aber da stand doch was von Mahler …» «Ja», sagt die Frau an der Kasse. «Das ist der Name des Orchesters: ‘Mahler Chamber Orchestra’.» Eigentlich ging es den beiden Frauen gar nicht um Musik, den Saal wollten sie sehen. Mozart, Beethoven oder eben Mahler, das hätten sie ja in Kauf genommen, aber Berio und Ligerti …?
Nun, die beiden wissen nicht, dass sie einen denkwürdigen, berauschenden Musik-Abend verpasst haben. «Eine der bewegendsten und stimmigsten Grosstaten, die bislang im neuen Konzerthaus zu erleben waren», hiess es anderntags in der Kritik. Und auch als Zugereiste, die zum ersten Mal ein Konzert in der Elbphilharmonie besuchte, kann ich vermuten, dass die Aussage stimmt. Es war definitiv kein Konzert wie jedes andere.
Und dass es am Schluss euphorischen Applaus gab – trotz des eher schwierigen, oder sagen wir lieber: anspruchsvollen Programms – lag an Teodor Currentzis. Er war mit seinem Chor MusicAeterna angereist und liess in diesem neuen Konzertsaal Ungewohntes erklingen: Radikales, Neues, Magie.
Gesang der Einsamkeit
Dunkel wird es im Saal, auch auf der Bühne bleibt es dämmrig und leer. Langsam bohren sich zwei Schlaginstrumente in die Stille: dumpf, dunkel und geheimnisvoll, wie ein Herzschlag, der dem Saal Leben einhaucht. Im Dunklen kommen Chor und Musiker auf die Bühne, zu unterscheiden sind sie kaum. Dann der Weckruf: «Call» von Luciano Berio, fünf Minuten mit fünf Fanfaren. Schlagartig wird es hell und zusätzliches, musikalisches Licht bringt György Ligetis Werk «Lux aeterna»: das ewige Licht und der Abschluss der liturgischen Totenmesse.
Schon Stanley Kubrick hat Ligetis Klänge in seinem Kultfilm «Space Odyssey» verwendet. Hier in Hamburg singt der phänomenale Chor «MusicAeterna», den Currentzis in Sibirien zusammengestellt hat. Die Stimmen irrlichtern a cappella durch den Saal, flirrend, leise und eindringlich. Weiter geht es mit «Lonely Child», einem Gesang der Einsamkeit des Kanadiers Claude Vivier, hinreissend vorgetragen von der jungen amerikanischen Sopranistin Sophia Burgos. «Oh schönes Kind des Lichts, schlafe, schlafe, schlafe immerzu …», den hypnotischen Klängen kann man sich kaum entziehen.
Kein Wohlfühlgesumsel
Schliesslich «Coro». Vor vierzig Jahren hat Luciano Berio das Werk komponiert. Musiker und Sänger werden hier in Zweierteams auf der Bühne verteilt, ein Instrument plus eine Stimme. Musikalisch greift Berio auf Volksmusikelemente aus den verschiedensten Kulturkreisen zurück und für den Text wählte Berio Dichtungen, unter anderem aus Afrika, Polynesien, Persien, dem Balkan und Venedig. Bindeglied dazwischen ist ein immer wiederkehrender Klagetext aus «Residencia en la tierra» des chilenischen Dichters Pablo Neruda. «Kommt und seht das Blut», heisst es immer wieder, «kommt und seht das Blut auf den Strassen». Aktueller, radikaler, aufrührender als dieses gesellschaftskritische Werk könnte zurzeit gar nichts sein.
Spannend, verwirrend, beklemmend und zugleich sinnlich und betörend. Für diese Art von Musik braucht es einen Verführer wie Teodor Currentzis und einen Chor wie «MusicAeterna», sonst geht’s nicht. In Hamburg, an der Elbe, war es fulminant und grandios: kein Wohlfühlgesumsel, es ist der Soundtrack von Gewalt und Tod, von Hoffnung und Trauer.
Krieg und Frieden an der Spree
Um Krieg und Frieden und die prekäre Situation unserer Welt ging es anderntags mit «War and Peace» auch bei Joyce DiDonato. Diesmal allerdings nicht an der Elbe, sondern an der Spree, in der Berliner Philharmonie. Joyce DiDonato, Opernsuperstar, Mezzosopran und «Yankeediva aus Kansas», wie sie sich selber nennt, hat ihr neues Soloprogramm auf CD aufgenommen und tourt gegenwärtig damit um die Welt. (In der Schweiz sind allerdings bislang keine Konzerte vorgesehen)
«Diese Reise vom Krieg zum Frieden, von Dissonanz zur Harmonie möge dazu anregen, sich Gedanken darüber zu machen, ob nicht auch im Leben jedes Einzelnen mehr Raum für Frieden vorhanden wäre», schreibt Joyce DiDonato auf einer persönlich gehaltenen Karte, die dem Programmheft beiliegt.
Mit der gleichen Inbrunst, Innigkeit und Wut singt sie Stücke von Händel, Purcell und Gesualdo über Krieg und Kampf, dann über Hoffnung und Frieden. Sie selbst tritt in abenteuerlichem Make-up auf, mit mehr Krieg als Frieden im Gesicht. Und in einem Kleid der englischen Designerin Viviane Westwood. Begleitet wird Joyce DiDonato vom Orchester «Il Pomo d’Oro» unter der Leitung des jungen Russen Maxim Emelyanychev, der auch zum musikalischen Umfeld von Teodor Currentzis gehört.
Da es nicht nur um schöne Musik, sondern tatsächlich auch um die Brisanz der Texte geht, werden sie in der Berliner Philharmonie auf Deutsch übertitelt. Und sie zeigen, dass Sorgen und Nöte der Menschen seit Jahrhunderten die gleichen sind. Aussicht auf Besserung besteht offenbar nicht.
Stürmischer Applaus am Schluss, die Friedensbotschaft ist angekommen beim Publikum. Und Joyce DiDonato setzt nach dem Konzert noch einen drauf, schnappt sich das Mikrofon und distanziert sich – als Amerikanerin – von dem, was zurzeit politisch aus Amerika kommt … Und nochmals stürmischer Applaus. Vielleicht sogar ein bisschen demonstrativer als zuerst.
Musik als Friedensbotschaft? Zumindest mag sie ein Denkanstoss sein. «Wie findet man Frieden inmitten des Chaos?» fragt Joyce DiDonato und schlägt gleich eine Lösung vor: «Kunst einigt, überschreitet Grenzen, verbindet Getrenntes, beseitigt Standesunterschiede, beruhigt Tumulte, bedroht Macht und verherrlicht den Geist. Kunst ist ein Weg zum Frieden.»