Drei Anläufe brauchte es, bis es klappte, den jungen, aufstrebenden Schweizer Dirigenten Lorenzo Viotti zu treffen. Der erste Versuch war vor zwei Jahren bei den Salzburger Festspielen, der zweite im vergangenen Winter, als Lorenzo Viotti an der Mailänder Scala «Romeo und Julia» dirigierte. Immer kam etwas dazwischen. Nun war er in Zürich, aber unser Treffen fand erst kurz vor der letzten Vorstellung der «Csardasfürstin» im Zürcher Opernhaus statt. Wer die «Csardasfürstin» verpasst hat, hat auch Lorenzo Viotti verpasst. Und wer in einer Vorstellung war, hat Lorenzo Viotti trotzdem erst beim Schlussapplaus gesehen … Denn coronabedingt sind Chor und Orchester gegenwärtig nicht im Opernhaus platziert, sondern einen Kilometer entfernt im Probensaal am Kreuzplatz.
«Genial», sagt Lorenzo Viotti zu dieser Lösung, die es immerhin ermöglicht, mit Chor und grossem Orchester zu arbeiten. Wenn auch aus sicherer Distanz zur Bühne. «Natürlich ist es nicht optimal, das wissen wir. Ich habe keinen direkten Kontakt zu den Sängern, verfolge sie aber auf einem Bildschirm. Ich sehe und spüre, wie ich mit dem Orchester reagieren muss. Der Klang im Opernhaus ist technisch auch immer besser geworden. Das ist toll: man kann alles spielen, von ‘Boris Godunow’ über ‘Elisir d’amore’ bis zum Ballett oder eben zur ‘Csardasfürstin’. Andere Opernhäuser sollten sich ein Beispiel an Zürich nehmen.»
Gute Atmosphäre
Wir sitzen im kleinen Dirigentenzimmer im Opernhaus. Lorenzo Viotti, 30 Jahre alt und bemerkenswert gutaussehend, hat nach «Werther» zum ersten Mal seit drei Jahren wieder in Zürich dirigiert. Inzwischen ist er einer der spannendsten und gefragtesten Shootingstars im Klassik-Bereich. Im Zürcher Opernhaus, das betont er ausdrücklich, sei er sehr gern. «Sobald man beim Portier eintritt, fühlt man sich total willkommen. Es ist eine sehr warme Atmosphäre. Man merkt auch, dass zwischen den Musikern im Orchester eine sehr gute Energie herrscht. Es gibt keinen Druck. In anderen Häusern spürt man manchmal, uhhhhfff … jetzt bin ich in einer riesigen Institution. Zürich hat eines der besten Opernhäuser der Welt, ich würde das wirklich zu den Top Ten zählen, aber man spürt nicht den Druck eines weltberühmten Hauses. Das ist schon sehr angenehm.»
Die «Csardasfürstin» gilt als erfolgreichste Operette von Emmerich Kálmán. Trotzdem: Operette … das klingt doch etwas verstaubt, etwas miefig und ziemlich passé. Wie kommt ausgerechnet ein junger Dirigent dazu, sich sowas anzutun? «Ich fühle mich in der Operette zuhause», sagt er lächelnd. «Ich habe nie verstanden, warum die Leute Operetten nicht ernst nehmen. Während meiner Ausbildung in Wien habe ich als Schlagzeuger oft in Operetten gespielt. Und meine erste Erfahrung als Dirigent habe ich mit dem ‘Walzertraum’ von Oscar Strauss an der Volksoper in Wien gemacht!» Operette sei anspruchsvoll, sagt er, schwierig zu spielen, zu singen und auch schwierig zu dirigieren. Man müsse sich gut auskennen, und die richtige Leichtigkeit zu erzielen, sei hohe Kunst. «Operette kann schnell plakativ klingen, das ist wie bei Komödien: Das Publikum im richtigen Moment zum Lachen zu bringen ist schwierig. Ich liebe Operetten, aber ich mache sie zu wenig.» Lorenzo Viotti schwärmt richtig. Und wenn man ihm zuhört, fragt man sich, warum Operetten denn heute eher einen schlechten Ruf haben. «Vielleicht, weil sie in Deutschland und Österreich in den Volksopern gespielt werden und diese Häuser durften keine seriösen Werke spielen. Das hat dem Ruf der Operette geschadet. Dabei tut die Operette dem ‘ernsten’ Repertoire gut und umgekehrt. Aber diese Musik landet oft in der Schublade und man sagt, das kennen wir, das ist traditionell, das ist leichte Muse und man verliert die nötige Neugier. Dabei ist ein Walzer sehr schwierig zu dirigieren. Ist es ein deutscher Walzer? Ein französischer oder ein slawischer Walzer? Und in der Musikausbildung auf dem Konservatorium lernt man das auch nicht mehr. Ich bin sicher, die Operette kommt wieder. Aber man muss dafür kämpfen.»
Eigentlich war es ja ein Zufall, dass Lorenzo Viotti nun in Zürich die «Csardasfürstin» dirigiert hat. Vorgesehen war stattdessen sein Debüt an der Metropolitan Opera, und zwar mit «Carmen». Corona hat aber Viottis Antritt in New York vereitelt und plötzlich hatte er freie Kapazität, um in Zürich für einen anderen Dirigenten einzuspringen, der – ebenfalls coronabedingt – nicht ans Opernhaus kommen konnte. «Drei Jahre lang hatten wir – also das Opernhaus und ich – keinen gemeinsamen Termin für eine neue Produktion gefunden, und nun hat es sich unverhofft ergeben.»
Musikerfamilie
Mittlerweile ist Lorenzo Viotti international gefragt – und wird international gefeiert. Geboren wurde er in Lausanne. Sein Vater war der bekannte Dirigent Marcello Viotti, der viel zu früh im Alter von 51 Jahren gestorben ist. Seine Mutter ist Geigerin, eine Schwester ist Sängerin, die andere Hornistin und der Bruder spielt ebenfalls Horn. Man könnte sagen, in dieser Familie gab es kein Entrinnen vor der Musik … aber Lorenzo Viotti betont, dass es allein die Entscheidung der vier Kinder war, ebenfalls eine musikalische Laufbahn zu wählen. Druck von Seiten der Eltern gab es jedenfalls nicht. Und auch wenn Lorenzo schon in jungen Jahren ahnte, dass er eines Tages Dirigent sein würde, liess er sich zunächst in Lyon als Schlagzeuger ausbilden. Später besuchte er das Konservatorium in Wien und sass vor allem in vielen Opern-Proben, um am lebendigen Beispiel zu lernen, was man als Dirigent wissen muss. Das funktionierte so gut, dass er 2012 als 22-Jähriger beim internationalen Dirigentenwettbewerb im katalanischen Cadaqués gleich den ersten Preis gewann. «Ja, das war sehr wichtig für mich. Die Auszeichnung in Cadaqués hat mir ermöglicht, anschliessend mit 23 Orchestern zu arbeiten. Für einen jungen Dirigenten ohne Erfahrung ist das natürlich die beste Schule. Man kann das berühmteste Konservatorium mit einem Super-Diplom abschliessen, aber das nützt nichts, wenn man nicht die Möglichkeit hat, zu dirigieren. Ich war von nun an unterwegs, immer mit einem anderen Programm, in anderen Städten, mit anderen Solisten … ich habe drei Jahre lang kein einziges Werk wiederholt. Jede Woche eine andere Sinfonie, eine andere Ouvertüre, Concerti, Intermezzi … alles!» Dann kam die Einladung zum renommierten Salzburger Wettbewerb «Young Conductors Award». «Erst wollte ich gar nicht mitmachen, denn ich hatte inzwischen schon zwei Wettbewerbe gewonnen und viele Anfragen. Für mich war es sehr organisch, wie sich alles aufgebaut hatte, mit kleinen Orchestern an abgelegenen Orten, wo kein Druck herrschte, dann ein grösseres Orchester, aber mit Stücken, die ich schon kannte, dann Oper in Klagenfurt, in Stuttgart, alles Schritt für Schritt.» Kurz und gut: Lorenzo Viotti trat an beim Salzburger Wettbewerb – und ging als Sieger hervor. «Meine Beziehung zu Salzburg war speziell», erzählt er. Schon als Akademist bei den Wiener Philharmonikern konnte er am Schlagzeug bei Konzerten in Salzburg auftreten. «Und ich war auch schon am Dirigentenwettbewerb, und zwar bevor ich selbst teilnahm. Nämlich als Zuschauer!» Als Teilnehmer hatte er später dann die Gelegenheit, mit der Camerata Salzburg aufzutreten. «Mit diesem Orchester habe ich mich extrem wohl gefühlt und seit dem Wettbewerb arbeiten wir ziemlich eng zusammen.»
Junger Chefdirigent
Trotz seines jungen Alters hat Lorenzo Viotti also bereits viel Erfahrung gesammelt. Seit 2018 ist er auch Chefdirigent des Orquestra Gulbenkian in Lissabon und ab nächster Saison ist er Chefdirigent beim Netherland Philharmonic Orchestra und der Dutch National Opera in Amsterdam. Man muss tief Luft holen bei der Aufzählung all dessen, was der Dreissigjährige alles schon erreicht hat. Und wenn man heute davon spricht, dass der Salzburger Wettbewerb für ihn der grosse Tür-Öffner gewesen sei, dann winkt er ab. «Ehrlich gesagt, wenn am Tag nach dem Wettbewerb eine Anfrage vom berühmtesten Orchester der Welt gekommen wäre, hätte ich abgelehnt. Man muss als Dirigent und Mensch bereit sein, ja zu einem sehr grossen Orchester zu sagen. Es hat dann noch ein paar Jahre gedauert, bis ich mit den Münchner Philharmonikern angefangen habe oder jetzt mit den Berlinern, mit Cleveland, oder opernmässig mit Amsterdam, Paris oder Milano … Es war meine ganz persönliche Entscheidung, wann ich mit den grossen Orchestern zu arbeiten beginne. Ich habe mich durch keinen Wettbewerb und keinen Meisterkurs dazu gedrängt gefühlt.»
Nun ist es ja sicher auch nicht ganz einfach, als junger Mensch vor ein grosses Orchester zu treten, in dem die meisten älter sind, und dann zu sagen, wo’s lang geht. Wie ist dieses Aufeinandertreffen für Lorenzo Viotti? «Sehr spannend! Es gibt keine Regel, man ist ein bisschen blind am Anfang, man tastet sich heran und probiert auf die anderen zu reagieren. Natürlich hat man selbst ein Konzept über Spannung und Farben des Werkes erarbeitet, aber man weiss nicht, wie das Orchester es das erste Mal spielen wird. Also hört man zu und versucht zu spüren … Ich habe jetzt acht Jahre Erfahrung und ich habe gelernt, dass diese magische Spannung jede Sekunde zerbrechen kann. Man muss das sehr ernst nehmen und sich selbst treu bleiben. Wenn dann die Musiker den Klangunterschied wahrnehmen, den sie vielleicht in dreissig Jahren noch nie gehört haben, dann wird man auch von ihnen respektiert. Ob sie mich lieben, spielt keine Rolle, aber natürlich ist es ein schönes Gefühl, zu spüren, ahhhh … das Orchester mag mich. Aber noch schöner ist es, den Klangunterschied zu hören und wenn das Orchester realisiert, dass die mühsame Arbeit sich gelohnt hat. Denn die Arbeit kann mühsam sein, man arbeitet schliesslich mit Menschen …» Hat er vielleicht auch mal Lampenfieber? Lorenzo Viotti holt tief Luft und denkt nach. «Ehrlich gesagt habe ich das fast nie. Ich bin immer aufgeregt, aber die Bühne ist mein Zuhause. Natürlich, wenn man das erste Mal vor einem berühmten Orchester steht … puhhhhh, dann braucht man zwei, drei Minuten, bis man wirklich selbst da ist. Das kann einen schon erdrücken, aber dann sage ich mir, ok, du hast ‘ja’ gesagt, also bist du bereit. Es ist ein langer Prozess.»
Einfluss des Vaters
Lorenzo Viottis Vater ist so früh gestorben, dass es nicht mehr zu einem Fachaustausch zwischen Vater und Sohn kam. Es gibt keinen direkten Vergleich zwischen Vater Marcello und Sohn Lorenzo, keine Konkurrenz, und vor allem auch keinen Drang für Lorenzo, sich dem Vorbild des Vaters zu entziehen. Wieviel Einfluss hatte Marcello Viotti aber trotzdem auf den Sohn? «Ich weiss es noch nicht genau», sagt Lorenzo Viotti nachdenklich. «Es ist ein Prozess. Ich war 14 bei seinem Tod und ich habe die Erinnerung an den Papa, nicht an den Dirigenten. Für meine Entwicklung ist das besser. Unsere Wege waren total unterschiedlich. Er hat viel später angefangen als ich und er hat sich musikalisch auf eine andere Richtung konzentriert. Aber ich glaube, die Liebe zum Schlagzeug, die er mir damals vermittelt hat, die wirkt nach, und diese Leidenschaft für die Musik, die er hatte, wenn er nach Hause kam und sagte, ah … ich habe da etwas entdeckt, ihr müsst das hören …! Und ich erinnere mich, es ging da um Korngold und ‘Aus Italien’ von Richard Strauss. Ich war elf oder zwölf Jahre alt und ich glaube, diese unendliche Liebe zur Musik, diese Begeisterung, das war eine extrem schöne Erfahrung. Manchmal schaue ich in seine Partituren, und denke: ah ... das ist genau so, wie ich mir das überlegt habe. Oder auch das Gegenteil, wenn ich höre, wie er ‘Tosca’ dirigiert hat … und ich möchte es total anders. Aber es ist eine andere Generation und eine andere Zeit. Ich bin extrem stolz, seinen Namen zu tragen, aber ich bin auch jeden Tag traurig, dass ich all dies nicht mit ihm teilen kann.»
Rap, Funk, Rock’n’Roll und Fashion
Als Dirigent hat Lorenzo Viotti ständig mit Menschen zu tun. Mit Musikern, Sängern und Sängerinnen, mit Regisseuren und Intendanten, aber kaum je mit anderen Dirigenten. Gibt es da überhaupt einen Austausch oder sogar Freundschaften?
«Selten. Aber ich habe noch viel Kontakt mit meinen Lehrern. Für mich ist es wichtig, immer wieder zu lernen und ein Vorbild zu haben. Aber Kontakt zur jungen Dirigenten-Generation gibt es nicht wirklich.» Das sei auch schwierig, weil ja alle immer überall unterwegs seien. «Aber das ist ok so. Denn in meiner Freizeit möchte ich nicht immer nur mit Musikern zu tun haben, sondern auch mit Freunden zusammen sein, die mir eine ganz andere Welt vermitteln.» Sich immer nur in der luxuriösen Klassik-Welt zu bewegen sei halt schon ein bisschen zu bequem. Zum Ausgleich treibt er Sport. «Und ich höre Musik … immer, jeden Tag: Rap, Funk, Jazz, Rock’n’Roll … und auch klassische Musik ...!» Nebenher war er auch schon in der italienischen Vogue als Model zu bewundern. «Also, ‘Model’ war ich nie», stellt er lachend klar. «Aber Fashion interessiert mich, auch als Dirigent. Ich bin jung, habe keinen akademischen Weg gemacht und treibe viel Sport. Das ist nicht so üblich in der Klassik-Welt. Aber wenn man diese Klassik-Welt weiterbringen und ein neues Publikum erreichen will, dann muss man das mit Video, anderen Künsten und auch mit Fashion tun. Mit Fashion erreicht man junge Leute auf der ganzen Welt. Wenn ich dadurch, wie ich etwas trage, junge Leute auch für meine Kunst interessieren kann, bin ich froh.» Im Kopf hat er bereits ein Projekt. Und dazu gehören eben auch andere Musikstile. «Ich möchte gern Neues in meinem Beruf ausprobieren, mit mehr Kreativität, um die Türen weiter zu öffnen. Das ist sehr spannend.»
Mit seinen Vorstellungen, Plänen, Ideen und Projekten beschreitet Lorenzo Viotti neue Wege, wie sie in der jüngeren Generation auch Teodor Currentzis schon erfolgreich gegangen ist. «Ja», bestätigt Viotti, «Currentzis ist eines meiner Vorbilder, er arbeitet mit Ehrlichkeit und Risiko.» Und mit Erfolg, könnte man beifügen. In Österreich, so liest man, sei es beim Klassik-Publikum mittlerweile «en vogue, Viotti schaun’ zu gehen …». Dass man dabei auch noch Interpretationen vom Feinsten hört, bestätigen selbst kritischste Kritiker.
Inzwischen hat Viotti Zürich verlassen und tummelt sich mit Mountain Bike auf holprigen Wegen in den Bergen. Seine Fans können das auf Instagram verfolgen: Cool sieht er aus und ein bisschen verwegen.