Während beim Wiener Neujahrskonzert nach wie vor – und seit Jahrzehnten – gestandene Herren die Wiener Philharmoniker dirigieren und walzerselige Klänge in alle Welt hinausschicken, ist man in Zürich längst ein paar Schritte weiter. Hier wird das Silvesterkonzert nun schon zum dritten Mal und mit grösster Selbstverständlichkeit von einer Frau dirigiert, der Mexikanerin Alondra de la Parra.
Grazil und zart wirkt sie, als wir uns kurz vor der Probe noch im Dirigentenzimmer der Tonhalle treffen. Und sie freut sich auch ganz offensichtlich auf die bevorstehende Probe. «Ich bin sehr gern hier und habe eine gute Beziehung zu diesem Orchester. Und auch zum Publikum», fügt sie schnell noch bei.
Mexikanische Klänge
Das Programm hat sie selbst vorgeschlagen, in Zusammenarbeit mit der Tonhalle. «Es sollte etwas Festliches sein, aber ich möchte das Orchester auch herausfordern. Sie sind so smart und so gut, es darf nicht zu einfach sein.» Also steht nun die «Sinfonia india» auf dem Programm, ein Stück ihres mexikanischen Landsmannes Carlos Chávez. «Das ist eines der wichtigsten Werke des sinfonischen Repertoires aus meinem Heimatland. Chávez war sehr bedeutend als Lehrer, Dirigent und Komponist. So fliesst auch etwas aus meiner DNA mit ein, um das Programm zu eröffnen.»
Solisten sind ihr aber auch wichtig neben dem Gesamtorchester. «Da gibt es ein Werk von Ástor Piazzolla mit João Barradas auf dem Akkordeon. Und natürlich die ‘Rhapsody in Blue’ von George Gershwin. Am Klavier Thomas Enhco, ein sehr spezieller Pianist. Wir haben im Sommer angefangen, zusammen zu arbeiten. Wir hatten uns zuvor noch nie gesehen. Dann habe ich ihn spielen gehört und war absolut hingerissen von seiner Fähigkeit, ganz strikt klassische Musik zu spielen und gleichzeitig ein unglaublicher Jazzmusiker und Komponist zu sein. In der ‘Rhapsody in Blue’ hat Geshwin eine Mischung aus Street-Music, Tänzen und Einflüssen der Volksmusik zusammenkomponiert. Das ist eine grossartige Mischung aber auch eine echte Herausforderung.» Mittlerweile haben die beiden nicht nur in der Musik zueinander gefunden, sondern auch im Leben. Und sie freuen sich natürlich, gemeinsam auf der Bühne zu stehen.
Alte Komponisten neu entdecken
Mit der Musik aus den verschiedenen Amerikas, von Nord bis Süd, hat Alondra de la Parra sich schon früh beschäftigt. Schon im Alter von 23 Jahren gründete sie in New York das «Philharmonic Orchestra of the Americas», um junge Solisten und Komponisten aus Südamerika zu fördern. «Über Jahrhunderte standen europäische Komponisten im Zentrum der klassischen Musik», sagt sie und natürlich habe sie deren Werke auch gespielt, als sie mit dem Klavier angefangen hat. Dann hat sie auch noch Komposition studiert und stiess auf Komponisten aus den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. «Ich dachte: Wow, wie kommt es, dass diese wunderbare Musik nicht von den grossen Orchestern gespielt wird. Diese Musik hat unbedingt einen Platz im Repertoire grosser Orchester verdient.» Einer, der sich schon früh für die lateinamerikanische Musik eingesetzt hat, sei Leonard Bernstein gewesen, sagt sie. «Er war befreundet mit Chávez und auch mit Heitor Villa Lobos. Das ist Musik, die inzwischen auch etwa hundert Jahre alt ist, uns aber ganz neu erscheint, weil sie kaum an die Öffentlichkeit kam. Vor zehn Jahren habe ich mal eine CD aufgenommen mit den Highlights der mexikanischen Musik, ‘Mi alma mexicana’, ‘meine mexikanische Seele‘.» Sie kommt richtig ins Schwärmen, wenn sie von diesen lateinamerikanischen Stücken erzählt und man hat das Gefühl, im geistigen Ohr die Rhythmen zu hören, mit so viel Herzblut spricht sie davon.
Fremde Orchester erkunden
Geboren in New York, aufgewachsen in Mexiko in einer musik-affinen Umgebung und dann wieder Musik studiert in New York. Seither ist sie in der Musikwelt unterwegs. An ihr erstes Konzert in Zürich erinnert sie sich gut. «Das war ein Dinner in der Tonhalle, eine Gala mit gedeckten Tischen und lateinamerikanischer Musik. Wir hatten riesigen Spass! Die Musiker waren alle so warmherzig und hatten den Ehrgeiz, das Beste zu geben.» Ein zweites Konzert war ein Beethoven-Programm und dann drei Silvesterkonzerte …
Wie ist es überhaupt, wenn man das erste Mal vor ein neues Orchester tritt, ganz allein, gegenüber ein paar Dutzend Musikerinnen und Musiker. «Das hat eine interessante Dynamik», sagt sie, «man weiss ja nie, auf was man trifft. Die Orchester sind neugierig auf mich und ich auf sie … Man spürt im ersten Moment, ob es klappt oder nicht. Das hat mit der Chemie zu tun. Manchmal ist es aber auch eine sehr grosse Gruppe, und man spürt, mit den einen klappt es, mit den anderen nicht so. Meine Aufgabe ist es dann, sofort Mittel und Wege der Kommunikation zu den Leuten zu finden, mit denen ich arbeiten muss. Ich hatte das Glück, als junge Dirigentin einen Lehrer wie Kenneth Kiesler zu haben, der mir von Anfang an klarmachte, dass ich die Dienerin der Musik bin und auch der Musiker. Dirigieren ist gewissermassen ein Dienstleistungsberuf. Also das Gegenteil dessen, was die Leute so denken …» Von wegen Diktator am Pult! «Ich bin da, um den Musikern ihr Spiel zu ermöglichen. Ich bin da, um es ihnen einfacher zu machen, sich zu entfalten. Das ist mein Job und manchmal ist es nicht ganz einfach.»
Ein wunderbarer Beruf!
Spürt sie aber sofort, ob sie mit einem Orchester auf der gleichen Wellenlänge unterwegs ist? «Ja! Aber manchmal kostet es Zeit und Geduld und es funktioniert doch nicht. So ist das Leben! Das ist in jeder zwischenmenschlichen Beziehung so. Und genau das ist doch das Wunderbare an einem Orchester: dass es keine Maschine ist, dass es real und nicht digital funktioniert. Es ist ein wunderbarer Beruf! Manchmal muss man auch einfach Vertrauen haben und die Zügel loslassen. Perfektion zu erreichen, das ist nahezu unmöglich.»
Rund hundert Orchester in ungefähr 30 Ländern hat sie in ihrer Laufbahn inzwischen dirigiert. Und sie hat dabei nicht nur gegeben, sondern auch genommen. «Manchmal komme ich mit einer klaren Vorstellung, und das Orchester schlägt mir eine andere Lösung vor, die ich auch gut finde. Wenn man es dann hört, wird man geradezu süchtig nach diesem bestimmten Sound. Wir lernen dabei genau gleich viel, wie wir von uns einbringen. Es ist ein Geben und Nehmen.»
Daneben hat Alondra de la Parra auch noch zwei Kinder. Wie managt sie das überhaupt? «Ich weiss auch nicht ...», sagt sie mit einem Seufzer. «Bis jetzt konnte ich die Kinder auf Reisen mitnehmen. Aber ich muss auf vieles verzichten. Ich musste einige berufliche Ziele erst einmal streichen. Jetzt gehen sie in die Schule und ich versuche, etwas sesshafter zu werden. Natürlich will man die grossen Orchester der Welt dirigieren. Aber früher waren es ja vor allem Männer, die in der Welt herumflogen und nebenbei auch noch Chefdirigenten verschiedener Orchester waren. Dieses Muster funktioniert nicht mehr. Auch für Männer. Covid hat uns darüber nachdenken lassen: Was bringt ein Reise-Dirigent?» Statt herumzureisen hat sie sich drei Monate in Barcelona niedergelassen, und im Teatro Liceo «Turandot» einstudiert und dirigiert. Eine grossartige und schöne Erfahrung sei das gewesen, schwärmt sie.
Die Kakophonie aus dem Tonhalle-Saal wird immer lauter, immer dringlicher. Alle sind eingestimmt, es fehlt nur noch Alondra de la Parra. Ein paar Schritte nur sind’s zur Bühne. «Guten Abend» sagt sie freundlich zum Orchester, und schon geht es los ...
Silvesterkonzert
Tonhalle Zürich
Alondra de la Parra
30. und 31. Dezember