Seit Tagen läuten die Kirchenglocken. Die grossen französischen Fernsehsender blenden durchgehend den Schriftzug „Je suis Charlie“ ein. Die Zeitungen platzieren auf der Front ein Trauer-Logo. Am Arc de Triomphe leuchtet die Schrift „Nous sommes Charlie“. Am Fernsehen brechen bestandene Persönlichkeiten in Tränen aus.
„Silence, on pleure“, heisst das Motto der Schweigemärsche. Am Samstag demonstrierten 700'000, am Sonntag waren es sage und schreibe vier Millionen - die grösste je in Frankreich gesehene Kundgebung. Das Attentat hat eine grossartige Solidaritätswelle ausgelöst. Chapeau les français et les françaises. (Hätte es das in andern Ländern auch so gegeben?)
Frankreich ist erstarrt. Schon eine halbe Stunde nach dem Anschlag spricht ein „Libération“-Journalist von „unserem nine/eleven“. Im Lande Voltaires, der Aufklärung, der Französischen Revolution, der Menschenrechte, ist Meinungsfreiheit eines der höchsten Güter. Wird sie angegriffen, ist das ein Stich in die französische Seele. „Je désapprouve ce que vous dites, mais je me battrai jusqu'à la mort pour que vous ayez le droit de le dire.“ (Voltaire).
Schon gibt es Stimmen, die sagen: „Ihr seid selbst schuld, wenn ihr so provoziert, müsst ihr mit solchen Reaktionen rechnen“. Also Schwanz einziehen und kuschen.
Man kann die Karikaturen gut oder weniger gut finden. Doch eigentlich geht es gar nicht um Karikaturen. Und deshalb sind Sprüche wie „Je ne suis pas Charlie“ (Le Pen) einfach nur dumm. Auch ohne diese Zeichnungen hätten die Jihadisten, die ein gewalttätiges Islamverständnis haben, früher oder später zugeschlagen. Das Gewaltpotential wird seit Jahren von Scharfmachern im Nahen Osten gehegt und gepflegt. Viele werden seit langem radikalisiert, manche werden in jihadistischen Lagern im Nahen Osten zu Terroristen ausgebildet. Diese sind seit längerem quasi „standby“, um losschlagen zu können. Sie warteten nur auf eine Gelegenheit. Die Karikaturen waren jetzt der Auslöser.
Die Franzosen sind traumatisiert, weil sie fürchten, dass Charlie Hebdo nur der Anfang ist und einen Domino-Effekt auslösen könnte. Als ob ein Staudamm bräche, könnte eine Gewaltwelle über das Land schwappen. Tatsächlich ist zu befürchten, dass die Radikalisierten in ihrem Gewaltrausch weiter morden - und nicht nur in Frankreich. Kein Land ist heute sicher. Man soll den Teufel nicht an die Wand malen, doch Blauäugigkeit ist gefährlich.
Wie sagte der Papst im letzten Sommer. "Wir erleben jetzt einen Dritten Weltkrieg – wenn auch verstreut über die Welt. Aber der Krieg ist überall."
Und sollte der Terror einst auch vor unserer Tür geschehen – spätestens dann … sommes-nous tous Charlie.