Sechs Tage vor seinem mit Freude erwarteten 90. Geburtstag ist Jean-Jacques Sempé friedlich eingeschlafen. Ein grosser Zeichner hat diese Welt verlassen. Eine Anekdote soll sein Nachruf sein.
Vor rund 60 Jahren erschien in Paris «L’Express» auf Zeitungspapier und etwa im Format des heutigen «Sonntagsblicks». Das gleiche Erscheinungsbild wie «Newsweek» kam erst viel später. Chefredaktor vom Express war der legendäre Journalist Jean-Jacques Servan-Schreiber; JJ-SS. Auf der Frontseite stand jede Woche sein Editorial.Zuoberst auf der Frontseite konnte die Leserschaft in roter Druckfarbe sehen, der wievielte Tag des Algerienkrieges es am Erscheinungstag war. Die letzte Seite, ganz hinten, gehörte einem anderen Schwergewicht der französischen Sprache – «Le bloc-notes de François Mauriac». Und mit Spannung erwarteten die Abonnenten, auch in der Schweiz, jede Woche die Zeichnung von Sempé, verschmitzt, deutlich, unverwechselbar.
In einer Woche nahm sich Sempé Charles de Gaulle vor, kritisch und angriffig. Nun brach ein Sturm los. Mauriac kündigte per sofort seine Mitarbeit: Sempé oder er, dazwischen sollte es nichts geben. Scharen sonst so treuer Lesender kündigten ihre Abonnements. Und es hagelte kistenweise empörte Briefe. Sie alle forderten den Kopf von Sempé, der sich, wenn auch sicher mit gutem Grund, erfrecht hatte, dem Heiligenbild von de Gaulle ans Bein zu pinkeln. Gespannt wartete die interessierte Welt auf die Reaktion von JJ-SS. Sie liess nicht auf sich warten.
Im Editorial der folgenden Woche bedauerte der Chefredaktor die Fahnenflucht eines Teils seiner Leserschaft. Und er holte zur Erklärung aus: «Besässe ich eine Epicerie (Lebensmittelladen), und einer meiner Verkäufer würde bei meiner Kundschaft nicht gut ankommen, so müsste ich ihn entlassen», schrieb JJ-SS. Doch er fuhr fort, und man meinte, seine Zornesfalten zu sehen: «Mais un journal n’est pas épicerie!» Welch ein Charakter! Welche Prinzipientreue! Welch ein wunderbares Bekenntnis, welch ein grossartiger, unvergesslicher Satz, der Jungjournalistinnen und Jungjournalisten für ihr Berufsleben prägen sollte.
Sempé konnte sich auf seinen Chef verlassen, er, der später weltweit viele grosse Chefs kennenlernen sollte, etwa beim «New Yorker», und auch beim Zürcher Diogenes-Verlag, der seine Werke bis heute betreut. JJ-SS schrieb sinngemäss, er denke nicht einmal daran, den Forderungen so vieler Stimmen aus dem Publikum nachzugeben und Sempé zu entlassen. In seiner Zeitung gebe es Platz für viele Meinungen, und Sempé sei für ihn unverzichtbar. So leid es ihm wegen der vielen Fahnenflüchtigen, besonders um François Mauriac, tue. Er hoffe, dass sich das alles wieder einrenke. Aber er bleibe bei seiner Meinung.
Das wäre schon lange nur noch schwer denkbar. Ein solch senkrechter Journalismus, diese Solidarität mit den Mitarbeitenden, die Loyalität gegenüber anderen Weltanschauungen gehören wohl der Vergangenheit an.
Nun ist Sempé als Letzter der Runde zu den Verstorbenen gestossen – JJ-SS, René Goscinny, der die Texte zu Sempés wunderbarem kleinen Nick schrieb und später mit Albert Uderzo den Astérix erfand, vielleicht gehört auch Mauriac in diese Runde. Jedenfalls können sie sich über guten Journalismus, Charakterstärke und Solidarität unterhalten.