Drinnen im Stadion feierten die Fans den ohne grosse Mühe herausgespielten Sieg der wiedererstarkten brasilianischen Nationalmannschaft gegen Mexiko beim Confederations Cup, der Hauptprobe für die Fussballweltmeisterschaft im nächsten Jahr. Draussen auf den Strassen von Fortaleza herrschte alles andere als Jubelstimmung: Demonstranten und Polizisten lieferten sich heftige Kämpfe. Erboste Demonstranten warfen Steine auf Sicherheitskräfte, weil diese ihnen den Zugang zum Castelão-Stadion verwehrten, die Polizei antwortete mit Gummigeschossen.
Die meisten demonstrieren friedlich
Laut einheimischen Medienberichten wurden bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen mindestens fünf Sicherheitskräfte durch Steinwürfe verletzt. Demonstranten beklagten sich ihrerseits über die Folgen der Gummigeschosse, Rauchbomben und Pfeffersprays der Polizei.
So wie in Fortaleza gehen in diesen Tagen in ganz Brasilien Hunderttausende auf die Strasse, um gegen eine Politikerkaste zu demonstrieren, von der sie sich nicht vertreten fühlen. Die grosse Mehrheit protestiert friedlich. Sie will nichts zu tun haben mit den Randalierern, die Molotow-Cocktails werfen, Schaufenster einschlagen, Bankfilialen verwüsten, Autos in Brand stecken oder öffentliche Gebäude zu stürmen versuchen.
Bei den ersten Kundgebungen in der Wirtschaftsmetropole São Paulo und in Rio de Janeiro war die Polizei dennoch auch gegen jene, die nichts anderes als ihr Grundrecht auf freie Meinungsäusserung ausüben wollten, mit brutaler Härte vorgegangen. Inzwischen haben die zuständigen Gouverneure die Sicherheitskräfte jedoch zur Mässigung angehalten.
Lang aufgestauter Zorn
Die Polizei, deren Mentalität teilweise immer noch vom Geist der Militärdiktatur geprägt ist, war auf die Massenkundgebungen genauso wenig vorbereitet wie die Politiker. Zwar gab es auch in Südamerikas grösstem Land immer wieder Demonstrationen, aber seit 20 Jahren nie mehr einen derartigen Volksaufstand wie jetzt. Damals waren die Massen auf die Strassen gegangen, um den korrupten Präsidenten Fernando Collor de Mello aus dem Amt zu jagen.
Die aktuelle Protestwelle begann in São Paulo, nachdem die Fahrpreise für die öffentlichen Verkehrsmittel erhöht worden waren, und breitete sich rasch aus - sowohl geografisch als auch thematisch. Ein Sturm der Entrüstung brach über das Land hinweg, lang aufgestaute Wut begann sich zu entladen.
Lieber bessere Schulen als Prunkstadien
Da half auch nicht viel, dass São Paulo und sechs weitere Städte unter dem Druck der Strasse die Tarifaufschläge für Busfahrten zurücknahmen. Die Unmutsbekundungen brechen nicht ab. Sie sind Ausdruck eines tief verwurzelten Unbehagens gegenüber der politischen Klasse, die sich wie eine Machtverwaltungs-GmbH gebärdet und zwar oft und gern vom Volkswohl redet, aber in der Regel zuerst einmal die eigenen Interessen im Auge hat.
Die Demonstranten brandmarken die Milliardenaufwendungen des Staates für überteuerte Bauvorhaben der Fussball-WM und die mit diesen lukrativen Aufträgen verknüpften Kungeleien. Sie fordern mehr Geld für die Bildung und das Gesundheitswesen. Die Regierung, so ist in diesen Tagen immer wieder zu hören, speise das Volk mit Brot und Spielen ab, doch Brasilien brauche bessere Schulen und bessere Spitäler.
Gegen die Bildungslücken der Regierung
In der Tat besteht vor allem im Bildungsbereich ein enormer Nachholbedarf. Brasiliens erster Arbeiterpräsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte bei seinem Amtsantritt 2003 umfassende Schulreformen versprochen. Doch weder er noch seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff, die seit 2011 das Land regiert, haben sich in dieser Hinsicht besonders hervorgetan.
Der Anteil der Analphabeten ist immer noch hoch: Bei den über 18-jährigen beläuft er sich auf 9,1 Prozent, bei den 10-bis 18-jährigen auf 7, 9 Prozent. Seit 2009 stieg die Anzahl der Brasilianer, die überhaupt nicht oder weniger als ein Jahr zur Schule gingen von 9,7 auf 11,5 Prozent. Nur rund die Hälfte der brasilianischen Kinder schafft den Grundschulabschluss.
Die Gründe für die Schulmisere sind vielfältig. Die nach wie vor stark verbreitete Korruption führt dazu, dass ein beträchtlicher Teil der Mittel, die für die Schulen bestimmt sind, zweckentfremdet werden. Die Lehrer sind schlecht ausgebildet und unterbezahlt, die meisten Unterrichtsräume in einem katastrophalen Zustand. Es fehlt an Lehrmitteln und an ausreichender Verpflegung. Weil viele Kinder nicht genug zu essen bekommen, können sie sich nur schlecht konzentrieren, dösen desinteressiert und lustlos vor sich hin . Familien mit höheren Einkommen schicken ihre Kinder in Privatschulen. Die sind in der Regel teuer, aber meist nicht besonders gut. Bei internationalen Vergleichsstudien wie dem Pisa-Test schneiden die wohlhabenderen Kinder durchschnittlich schlechter ab als die ärmsten Kinder der entwickelten Staaten.
Keine eindeutigen Ziele
Die Unzufriedenheit mit der Regierung, der Überdruss des Volkes an Korruption und Misswirtschaft ist der einzige gemeinsame Nenner der brasilianischen Protestbewegung. Sie ist stark inspiriert von den Protestwellen zuletzt in der Türkei und zuvor in Spanien. Die Demonstranten gehören zum grossen Teil der Mittelschicht an, viele sind Schüler oder Studenten. Sie hängen keiner Ideologie an, haben keine sichtbaren Anführer, verfolgen diffuse Ziele und organisieren alle Demos über soziale Netzwerke.
Und wie steht es um ihr Durchhaltevermögen? "Der Riese ist aufgewacht", prangte in grossen Lettern auf einem Plakat im Castelão-Stadion in Fortaleza. Im Augenblick sieht es nicht so aus, dass er sich bald wieder zur Ruhe legen wird.