Fast täglich demonstrieren vor dem Genfer Uno-Gebäude Menschen für „Freiheit“. Es sind Tibeter, Tamilen aus Sri Lanka, Kurden oder Angehörige anderer Volksgruppen, von deren Existenz die Welt bisher nie etwas vernommen hat. Oft sind es nur einige Dutzend Leute, die sich lautstark Gehör verschaffen wollen. Manchmal aber werden tausende Demonstranten aus ganz Westeuropa nach Genf zum Platz der Nationen gekarrt, wo ihre Anführer vor der Uno-Kulisse einen eigenen Staat fordern.
Den Vogel schossen die Separatisten aus der pakistanischen Provinz Belutschistan ab. Sie mieten Werbeflächen auf Bussen der Genfer Verkehrsbetriebe, um darauf in grossen Lettern ihren Kampfspruch „Free Beluchistan!“ zu malen. Die Regierung Pakistans protestierte in Bern.
Nationalkonservative Parteien, die die Geschichte zurückdrehen möchten, erhalten derzeit weltweit Zulauf. Sie sehen in der Kleinstaaterei und der Errichtung von mehr Grenzen die Rettung vor der negativen Auswirkungen der Globalisierung und anderem Ungemach. Viele Bewohner der wirtschaftlich hoch entwickelten Regionen weigern sich einfach, einen Teil ihres Wohlstands an die rückständigen Gebiete weiterzugeben. Das gilt für die katalanischen Separatisten, die „Lega Nord per l’indipendenza della Padania“ in Italien und flämische Parteien in Belgien. Andere Unabhängigkeits-Bewegungen verweisen auf ihre angeblich bedrohte Kultur. Zu ihnen gehören Basken, Korsen, Bretonen und Savoyer.
Nicht alle Politiker, die eine Abspaltung ihres Landesteiles vom Zentralstaat anstreben, sind Abenteurer oder Chauvinisten. Schottland zum Beispiel könnte auf dem Rechtsweg aus dem Vereinigten Königreich austreten. 2014 stimmten 55 Prozent der Wähler gegen die Trennung. Jetzt steht im Lichte des Brexit ein neues Referendum auf den Schienen, doch die meisten Schotten gehen mit dem Thema vorsichtig um.
Eingeschränktes Selbstbestimmungsrecht
Völkerrechtlich stehen die Separatisten auf schwachen Beinen. Die Charta der Vereinten Nationen anerkennt zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker, schränkt dieses aber durch die Unverletzbarkeit der territorialen Integrität aller Staaten ein. In der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) kamen die 35 Teilnehmerstaaten 1975 überein, dass eine Veränderung der Grenzen nur mit freiwilliger Zustimmung der betroffenen Staaten möglich ist. Dies geschah 1993 bei der friedlichen Scheidung zwischen Tschechien und der Slowakei.
In den neunziger Jahren brachen die Sowjetunion und Jugoslawien zusammen – nicht zum Segen aller unabhängig gewordenen Teilrepubliken. Auf dem Balkan halten die völkischen und religiösen Spannungen an. Bosnien-Herzegowina zum Beispiel ist nur auf dem Papier ein souveräner Staat, in Wirklichkeit aber dreigeteilt. Die im Ruckzuck-Verfahren von den Westmächten geschaffene Republik Kosovo ist ein Misserfolg. Nach sieben Jahren Unabhängigkeit hat das Land noch keine eigene Währung (verwendet wird der Euro). Briefe werden von der Uno befördert. Für die Aufnahme in die Weltorganisation fehlt Kosovo aber die nötige Staatenmehrheit.
Ausserhalb Europas hat sich die von Washington und evangelikalen Glaubensgemeinschaften in den USA durchgesetzte Abspaltung des Südsudan vom Sudan zu einer Katastrophe entwickelt. Auf den Unabhängigkeitskampf gegen die Zentralregierung in Khartum folgte ein noch brutalerer Krieg zwischen den einheimischen Warlords und Ethnien. Unter anderem geht es um den Besitz der Ölvorkommen. Vier Millionen Südsudanesen befinden sich derzeit auf der Flucht vor dem Tod. Fast die Hälfte der Bevölkerung leidet nach Angaben der Hilfswerke unter Hunger. Die Republik Südsudan war 2011 als 193. Mitglied enthusiastisch in die Uno aufgenommen worden. Heute gilt sie als gescheiterter Staat.
Drohende Blockierung globaler Kooperation
Man kann sich kaum vorstellen, was es bedeuten würde, wenn der Separatismus Indien ergreifen würde. Die Republik Indien besteht aus 29 Staaten und neun Unionsterritorien mit unterschiedlichen Sprachen, Schriften und Religionen. Ihr Auseinanderbrechen würde ein geopolitisches Erdbeben bewirken.
Solche Überlegungen sind natürlich einigen Provinzfürsten fremd. Sie träumen davon, als Staatsoberhäupter vor der Uno Reden zu schwingen. In ihrer Perspektive würde die Uno bald 300 Mitglieder zählen, die mit Lokalkonflikten jede Lösung globaler Probleme blockieren.
Um bei der Aktualität zu bleiben: Ein autoproklamierter Staat Katalonien hat auf absehbare Zeit keine Chancen, Mitglied der EU und der Uno zu werden. Die Separatisten steuern in ein schwarzes Loch, im schlimmsten Fall in einen Bürgerkrieg. Die Realität ist die Schaffung grösserer Wirtschaftsräume. Staatsgrenzen werden unbedeutend. Für Europas wirtschaftliches Überleben stehen Airbus oder die Fusion der Eisenbahnunternehmen Alstom und Siemens. Für das Wohlgefühl und die Wahrung der kulturellen Eigenheiten jeder Gesellschaft gibt es ein Rezept: Autonomien und Föderalismus. Die Schweiz, Deutschland und sogar die USA sind damit bisher gut gefahren.