Die «Kammer» im Keller des Schauspielhauses Zürich ist bis auf den letzten Platz besetzt an diesem Abend. Klar, es ist die kleine Bühne, aber trotzdem. Es ist keine leichte Kost, die da geboten wird.
Ein Mensch am Rande der Normalität
Es geht um Ronald Rupp, einen Lehrer, der medikamentös wieder in die sogenannte Normalität zurückgefunden hat und nun sogar Schulleiter werden soll. Trotz dieser positiven Entwicklung bricht für Ronald Rupp plötzlich alles wieder zusammen.
Die Versetzung in einen höheren Rang und die Aufregung über diese Versetzung bringt ihn ausser Rand und Band. Euphorie und Verzweiflung wechseln sich ab. Gezeigt wird ein Mensch, am Rande der Normalität. Mehr noch: ein Mensch, der diese Grenzen nicht mehr sieht und ausrastet. Einer, der nicht ist, wie alle anderen. Oder so wie man sein sollte.
Auf der Bühne agiert auch eine Dolmetscherin
Christian Baumbach spielt diesen Gequälten und man spürt seine Zerrissenheit. Aber – und das ist das Besondere an dieser Vorstellung – Christian Baumbach und das kleine Ensemble stehen nicht allein auf der Bühne.
Mitten auf der Bühne agiert auch eine Dolmetscherin, die den Text in Gebärdensprache übersetzt. Die Aufführung wendet sich auch – aber nicht nur - an Gehörlose, die das Geschehen mit grosser Begeisterung mitverfolgen. Faszinierend auch für Hörende, zu sehen, wie die Dolmetscherin sogar komplizierte Texte in Gesten umwandelt.
Voller Körpereinsatz ist da gefordert und totale Konzentration. Bewundernswert. Dass dies nicht nur von einer einzigen Dolmetscherin gemacht werden kann, ist klar. In fliessendem Übergang wechseln sich zwei Frauen ab und sind mit grossem Engagement dabei. Der Schlussapplaus gilt nicht nur dem Schauspiel-Ensemble, sondern ebenso den beiden Frauen, die alles in Gebärdensprache übersetzen.
Sprechsprache plus Gebärdensprache
Katja Tissi ist begeistert. Sie gehört zum Vorstand von «movo», einem Verein, der Gehörlosen und Hörenden gemeinsame Theaterveranstaltungen und Workshops ermöglichen will. So wie hier im Schauspielhaus mit «Versetzung». Katja Tissi ist auch Lehrbeauftrage an der Hochschule für Heilpädagogik, insbesondere für das Gebärdensprachdolmetschen.
«Alle zwei Jahre haben wir eine Produktion in dieser Mischform von Gebärdenübersetzung und Bühnensprache», erklärt sie in Gebärdensprache, was von der Dolmetscherin fliessend in Sprech-Sprache übersetzt wird. Acht Projekte sind auf diese Weise bereits an verschiedenen Orten realisiert worden, übersetzt in Deutschschweizer Gebärdensprache, wie sie betont.
Gebärdensprache ist lokal verwurzelt
Denn Gebärdensprache ist nicht universell, sondern wie jede Sprache lokal verwurzelt und damit unterschiedlich. Solche Texte seien allerdings höchst anspruchsvoll und es braucht viel Konzentration, um sie in Gebärden zu übersetzen. Rund 80 Prozent, so schätzt Katja Tissi, habe man als Gehörloser wohl verstanden in dieser Vorstellung.
«Wir sind das natürlich auch gewohnt, weil wir visuelle Menschen sind.» Allerdings wäre es schön, wenn man den Schauspielern direkt ins Gesicht sehen könnte, statt auf die Gebärden der Dolmetschenden zu achten, fügt sie mit etwas Bedauern bei. Die Schauspieler seien ja hochprofessionell und wirklich beeindruckend.
Aus Wortspielen werden Gebärdenspiele
Die Dolmetscherinnen kennen dieses Problem und versuchen deshalb, nicht mehr als anderthalb Meter vom Schauspieler selbst entfernt zu stehen. Und wie bereiten sich die Dolmetscherinnen auf so einen Theaterabend vor? «Wir übersetzen Theaterstücke nicht spontan, sondern studieren sie minutiös», sagt Corinne Stutz, eine der beiden Dolmetscherinnen.
«Die Vorbereitung kann mehrere Arbeitstage dauern. Wir lesen das Textbuch und schauen Filmaufnahmen des Stückes an. Selbstverständlich besuchen wir vorher, wenn möglich, einmal eine Vorstellung. Wir bearbeiten den Text und überlegen uns, wie wir die Handlung in Gebärden umsetzen. Aus Wortspielen kreieren wir Gebärdenspiele und bei deutschen Redewendungen wenden wir Gebärdensprach-Redewendungen und Gebärdensprach-Metaphern an. Wir schauen auch, wann etwas Besonderes auf der Bühne passiert, wie z. B. eine Ohrfeige. Dann positionieren wir uns entsprechend und dolmetschen den Text im Voraus, damit die Zuschauer das Bühnenereignis, also diese Ohrfeige, nicht verpassen.»
Anstrengend und mit Leidenschaft
Diese Tätigkeit ist für die Dolmetscherinnen körperlich ebenso anstrengend wie für die Schauspieler. «Es ist für uns Hochleistungssport, den wir mit grosser Leidenschaft betreiben und der uns sehr viel Spass macht», sagt Corinne Stutz. «Anstrengend ist es vor allem, weil wir ja alle Rollen ‚übersetzen‘. Bei jedem Dialogwechsel übernehmen wir die Mimik und Körperhaltung der jeweiligen Person, wir spiegeln gewissermassen die Rolle. Bei rasanten Dialogen muss das sehr schnell geschehen.»
In «Versetzung» steht die Dolmetscherin mitten auf der Bühne, was angenehm sei für die Schauspieler, aber auch fürs Publikum, betont Corinne Stutz. «Es war eine grandiose Zusammenarbeit mit allen Beteiligten des Schauspielhauses und wir Dolmetscher freuen uns, einen Beitrag zur Inklusion zu leisten.
Schauspieler und hörende Zuschauer sagten uns nach der Vorstellung, dass der Theaterabend durch die Gebärdensprache sogar bereichert wurde!» Corinne Stutz hat schon öfter Theater, Musicals und auch Konzerte gedolmetscht. «Um den Besonderheiten des Theaterdolmetschens gerecht zu werden, besuchte ich einen Workshop von Musical- und Theater-Dolmetschern aus London, da es dort bereits etabliert ist», sagt sie.
Effort des Schauspielhauses
Und das Schauspielhaus selbst hat auf seiner Homepage ebenfalls einen Trailer platziert, mit Informationen für Gehörlose über das Stück. Natürlich in Gebärdensprache. Realisiert wurde der Trailer von Daniela Guse, die bei «Versetzung» auch Dramaturgin war. Interpretiert wird er von der gehörlosen Schauspielerin Natasha Ruf.
Dieser Effort des Schauspielhauses soll allerdings keineswegs nur gerade für «Versetzung» sein. Ganz im Gegenteil. Das Schauspielhaus will künftig mehr Vorstellungen für Gehörlose anbieten, nachdem die ersten Versuche – neben «Versetzung» auch bei Goethes «Wahlverwandtschaften» – so gut funktioniert haben.
Auch für die Schauspieler ein Erlebnis
Finanziert wird der zusätzliche Aufwand durch eine Auktion, die das Schauspielhaus am «Pfauenfest» durchgeführt hat. «Wir haben private Lesungen und musikalische Erlebnisse mit unseren Ensemblemitgliedern versteigert», sagt Barbara Higgs, Leiterin der Abteilung Fundraising am Schauspielhaus. «Der Erlös war für einen guten Zweck bestimmt und fliesst nun in die Verdolmetschung. Geplant ist das Angebot auch für die kommende Spielzeit, ab September 2019. Wir haben nun damit begonnen und Inklusion soll bei den neuen Intendanten ebenfalls gross geschrieben werden.»
Zu guter Letzt waren diese Vorstellungen mit Übersetzung in Gebärdensprache nicht nur fürs Publikum ein Erlebnis, sondern auch für die Darsteller auf der Bühne. Barbara Higgs: «Die Schauspieler haben sehr gut auf diese ,Erweiterung’ der Inszenierung reagiert und sie waren beim Schlussapplaus sehr berührt über die vielen positiven Reaktionen der Gehörlosen.»
Infos:
Die nächste Vorstellung von «Versetzung» mit Gebärden-Dolmetscherinnen: Dienstag, 9. April. Im Anschluss findet ein Publikumsgespräch statt, das ebenfalls simultan in Gebärdensprache verdolmetscht wird.
Gehörlose können Tickets zum Spezialpreis von 15 CHF bis 5. April per e-mail mit dem Stichwort «Lehrerzimmer» bestellen bei [email protected]
https://www.youtube.com/watch?v=sB4L2yiM4l8
«Versetzung» von Thomas Melle
Regie Clara Dobbertin, mit Christian Baumbach, Gottfried Breitfuss u. a.
9. April in der «Kammer» Schauspielhaus Zürich