Es gibt Orte auf der Welt, wo unter der Oberfläche schon seit Jahrhunderten Schwelbrände vor sich hinmotten. Es gibt Orte auf der Welt, wo mit Gas durchsetztes Wasser zuerst abgefackelt werden muss; wer würde schon glauben, dass Wasser brennen kann?
Gesellschaftliche Schwelbrände
Was haben diese Naturphänomene mit dem Zustand Europas zu tun? Mehr, als man auf den ersten, oberflächlichen Blick meinen könnte. Greifen wir aus dem Ozean zugänglicher Informationen nur drei Aspekte heraus. Das europäische Bankensystem steht vor dem nächsten «Stresstest». Damit soll untersucht werden, wie stabil die Geldhäuser sind, wenn man unvorteilhafte Entwicklungen postuliert.
Nur werden dabei zwei zentrale Faktoren nicht einbezogen. Die zunehmende Wertlosigkeit von Staatsanleihen, die die Banken weiterhin, dank der Europäischen Zentralbank, zum Nominalwert in der Bilanz ausweisen dürfen. Und die Tatsache, dass sich ein bedeutender Teil des Finanzmarkts bereits in das sogenannte Schattenbanken-System verlagert hat, also ausserhalb der offiziellen Bankbilanzen stattfindet.
Was auch immer bei diesem Stresstest herauskommen wird, es wird höchstens die Oberfläche beschreiben, von ihr verdeckte Schwelbrände im Untergrund auslassen. Also reine Augenwischerei. Genau wie die Debatte um die Berechnung und die Höhe des sogenannten harten Eigenkapitals von Banken, also der Reserve, die Banken als Risikopuffer bereithalten müssen. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob das 3, 5, 10 oder 20 Prozent sind oder sein sollten. Risiko findet ganz woanders statt.
Die Arbeitslosigkeit
Jugendarbeitslosigkeit von über 60 Prozent, Gesamtarbeitslosigkeit von bis zu 30 Prozent in Teilen der Eurozone, das ist ein allgemein bekannter Skandal, der das völlige Versagen der Regierungen exemplifiziert. Sie sind nicht einmal in der Lage, ihren Staatsbürgern ein aus eigenen Kräften erreichbares auskömmliches Leben zu ermöglichen, dass das Realisieren eines kleineren oder grösseren persönlichen Glücks beinhaltet.
Damit wird nicht nur eine ganze Generation Heranwachsender ihrer Gegenwart und Zukunft beraubt, mit allen fatalen Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft. Das ist nur die erschreckende Oberfläche. Sondern darunter mottet der Schwelbrand, dass Umverteilungsmassnahmen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe die Betroffenen zwar davon abhalten, alles kurz und klein zu schlagen. Aber längst nicht mehr durch aktuelle Wertschöpfung finanziert werden kann, sondern mit auf die Zukunft ausgestellten Schuldscheinen.
Da diese im europäischen Durchschnitt bereits das Dreifache des gesamten Bruttoinlandprodukts ausmachen, sind sie unbezahlbar, nicht rückzahlbar geworden. Aber solange dieser Schwelbrand nicht die Oberfläche, also die Gegenwart, erreicht und unter den Füssen brennt, spazieren die Europäer weiter über vermeintlich sicheren Boden.
Die Rentenversprechen
Nur Traumtänzer können behaupten, dass angesichts demographischer Faktoren, mangelndem Wirtschaftswachstum und einer globalisierten Welt mit neuen Wirtschaftsräumen und -mächten aktuell versprochene Renten auch tatsächlich ausbezahlt werden. Umlageverfahren werden absehbar den Zustand erreichen, dass ein Wertschöpfender für den Unterhalt eines Rentners aufkommen muss. Kapitalansparverfahren sind Opfer der verbrecherischen Niedrigzinspolitik der wichtigsten Notenbanken und können niemals die nötigen Renditen erreichen.
Da aber die überwältigende Mehrheit der Stimmbürger Rentenanwärter oder Rentner sind, wird sich keine politische Partei trauen, potenziellen Wählern reines Wasser einzuschenken. Vielmehr entfachen alle Politiker bunte Feuerwerke, behaupten, ein entsprechendes Wirtschaftswachstum in der Zukunft würde dann schon alle Probleme lösen. Denn wenn selbst Wasser brennen kann, dann ist doch alles möglich.
Die Zwangsläufigkeit
Im Zeitalter der Zauber-Ökonomie scheint wirklich alles möglich. Zombie-Banken beweisen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Massenarbeitslosigkeit lässt die Gesellschaft nicht auseinanderfliegen. Gigantische Geldneuschöpfung führt nicht zu galoppierender Inflation. Niedrigzinsen und damit das Ausserkraftsetzen des Regulativs von Risiko und Rendite legt den Kapitalmarkt nicht lahm. Die Börsen setzen zu immer neuen Höhenflügen an, obwohl dem keine entsprechende Wertsteigerung oder verbesserte Zukunftsaussichten der dort gehandelten Firmen zugrunde liegen. Nichts ist unmöglich, keine wirtschaftlichen Grundmechanismen, ja nicht einmal das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, scheinen zu funktionieren.
Der neue Grundkonsens aller Analysten und Wirtschaftskoryphäen ist: Auch wenn wir’s nicht verstehen, Wasser brennt und wenn selbst die Schwerkraft aufgehoben zu sein scheint, was soll’s, solange es läuft, läuft’s. Wieso sich die Finger damit verbrennen, auf den Schwelbrand unterhalb des so solide erscheinenden Bodens hinzuweisen.
Es scheint in verzweifelte Rechthaberei auszuarten, wenn man darauf hinweist: Ausser, die Welt entzieht sich doch völlig unserer Erkenntnisfähigkeit, gibt es wirtschaftliche Zwangsläufigkeiten, die früher oder später den Schwelbrand in einen Flächenbrand verwandeln.
Die Prognose zur Unzeit
Wer schon Mitte der Neunzigerjahre den Untergang der Swissair prognostizierte; wer rechtzeitig auf das Platzen der Dotcom-Blase hinwies, wer den Euro vom Moment seiner Geburt an als Fehlkonstruktion bezeichnete, wer die Verwurstung von Hypothekarschulden als üble Mogelpackung denunzierte, hatte erst im dem Moment recht, als diese Ereignisse dann auch eintraten. Wer es zur Unzeit tat, wurde milde oder höhnisch belächelt.
Und im Nachhinein macht man sich ja mit keinem anderen Satz so unbeliebt wie mit: Ich habe es schon immer gesagt.
Noch teuflischer ist die ewige Forderung nach dem Aufzeigen von Lösungsvorschlägen, Therapien, Auswegen. Als ob eine Diagnose nichts auch schon ein hübsches Stück Arbeit wäre.
Also was soll’s. Als Letztbegründung für alle Versuche, auf Schwelbrände hinzuweisen, bleibt wohl nur: Weil das Leben sonst noch langweiliger wäre. Weil es halt gesagt sein muss. Unter meine jüngste Analyse im «Tages-Anzeiger» schrieb der meistapplaudierte Kommentator: «Unglaublich, dieser Klartext, unglaublich, diese Klarsicht.» Das geht runter wie Öl, jedoch unbezweifelbar recht hatte ein weiterer Kommentator, der darauf trocken replizierte: «... aber was nützt’s?»