Doch nun trifft den US-Präsidenten Kritik von unerwarteter Seite: aus dem Lager früherer schwarzer Weggefährten. Sie werfen ihm Illoyalität und den Bruch von Wahlversprechen vor.
Noch im Wahlkampf 2008 hatte sich Senator Barack Obama voll auf Cornel West verlassen können. Der 58-Jährige, Professor für Theologie and afroamerikanische Studien an der renommierten Princeton University, warb damals auf 65 Wahlveranstaltungen für seinen, wie er meinte, idealistischen Freund. West ist einer der profiliertesten schwarzen Intellektuellen Amerikas – ein Akademiker, der nicht nur im Elfenbeinturm theoretisiert, sondern zur Abwechslung auch als Rapper oder Filmschauspieler agiert. Kurz: Cornel West, mit Vollbart und Afro, ist ein Mann mit Eigenschaften, einer, der sich nicht scheut, Klartext zu reden.
Neuerdings scheut er sich auch nicht, seinen „Bruder“ Barack im Weissen Haus frontal zu attackieren. Der Angriff ist die Folge einer enttäuschten Liebe: Cornel West, der sich vor drei Jahren von Barack Obamas Verheissungen von einem grundlegenden Richtungswechsel in der amerikanischen Politik („change we can believe in“) überzeugen liess, sieht sich inzwischen verraten. Andere führende Afroamerikaner teilen seine Enttäuschung, so zum Beispiel der Sänger Harry Belafonte oder der populäre TV-Moderator Tavis Smiley.
Kein Sinn für Dankbarkeit und Loyalität
Heute nennt Cornel West den Präsidenten „ein schwarzes Maskottchen von Wall Street-Oligarchen und eine schwarze Marionette von Wirtschaftsplutokraten“. In einem Gespräch mit dem früheren „New York Times“-Journalisten Chris Hedges hat der streitbare Professor die Gründe für seinen Sinneswandel dargelegt – eine Konfession, die derzeit unter afroamerikanischen Bloggern und Kommentatoren viel zu reden gibt.
Cornel West räumt ein, unter Umständen etwas zu gutgläubig gewesen zu sein, was Barack Obamas politisches Credo betraf. Als aber der Präsident sein neoliberales Wirtschaftsteam – Leute wie Lawrence Summers oder Timothy Geithner – vorgestellt habe, sei ihm schlagartig bewusst geworden, dass Obamas populistische Rhethorik nur Fassade war. Er habe erwartet, dass es in der neuen Regierung zumindest einige wenige Stimmen gäbe, die sich für Amerikas Arbeiter, für Arbeitsplätze und Bankenregulierung sowie dafür einsetzen würden, dass die Manager von Wall Street und Grossfirmen bis zu einem gewissen Grad demokratisch zur Rechenschaft gezogen werden könnten: „Ich habe mich völlig getäuscht.“
Er fühle sich, sagt Cornel West, vom Präsidenten auf zwei Ebenen verraten, sowohl auf einer persönlichen wie auf einer politisch-ideologischen. Persönlich kreidet er Barack Obama an, während des Wahlkampfs wiederholt seine Telefonanrufe nicht beantwortet und ihm sowie seiner Mutter und seinem Bruder im Januar 2009 keine Tickets zur Vereidigung des Präsidenten geschenkt zu haben – seinem politischen Engagement zum Trotz. Er und seine Familie hätten sich in Washington DC die Zeremonie im Hotel am Fernsehen ansehen müssen: „Das hat mir gezeigt, dass Bruder Barack Obama keinen Sinn für Dankbarkeit, für Loyalität, für Höflichkeit oder für Anstand hat. Ist das Ausdruck eines manipulativen, machiavellistischen Charakters, an den wir uns besser gewöhnen?“
Angst vor freien schwarzen Männern
Politisch wirft Cornel West Amerikas 44. Präsidenten vor, sich bei Ernennungen für wichtige Regierungsposten viel zu stark auf allseits bekannte Figuren aus dem Establishment abgestützt und so letztlich seine Wahlversprechen gebrochen zu haben. Barack Obama habe die Mächtigen im Lande nicht verunsichern wollen, obwohl er sich als Populist gegeben habe, und am Ende eine neoliberale Politik gut geheissen, wie sie bereits Bill Clinton verfolgte: „Er sollte eine Art schwarzes Gesicht der Führung der demokratischen Partei werden.“
Der Präsident, diagnostiziert Professor West in Chris Hedges’ Blog „truthdig“, habe wohl Probleme mit seiner Hautfarbe: „Ich glaube, mein lieber Bruder Barack Obama fürchtet sich etwas vor freien schwarzen Männern. Das ist verständlich. Als junger Bruder, der mit einem brillanten schwarzen Vater in einer weissen Umgebung aufwuchs, hat er sich stets davor fürchten müssen, ein Weisser mit schwarzer Hautfarbe zu sein. Alles, was er kulturell kennen gelernt hat, ist weiss.“ Obama, so Cornel West, fühle sich aufgrund seiner Herkunft eher unwohl, wenn er Nachfahren schwarzer Sklaven treffe: „Er fühlt eine gewisse Wurzellosigkeit, eine gewisse Entwurzelung.“
Der Princeton-Professor wirft dem Präsidenten weiter vor, Gelegenheiten verpasst zu haben, Amerika auf den richtigen Pfad zurück zu führen: „Stellen Sie sich vor, Barack Obama hätte sein Amt angetreten und den Amerikanern ehrlich gesagt, was hinter der Finanzkrise steckt und welche Rolle Geldgier dabei spielt. Stellen Sie sich vor, er hätte uns gesagt, was für Mechanismen notwendig sind, um Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, er hätte den Hausbesitzern statt den Investmentbanken mit staatlichen Krediten geholfen und in grossem Umfang neue Stellen geschaffen. Hätte er all das getan, er hätte den rechts gerichteten Populismus der Tea Party im Keim ersticken können. Die Leute der Tea Party behaupten zu Recht, die Regierung sei korrupt. Sie ist korrupt. Big Business und die Banken haben die Regierung übernommen und weitgehend korrumpiert.“
Elite oder schwarzes Milieu?
Es verwundert kaum, dass Cornel Wests Philippika unter Anhängern des Präsidenten auf heftige bis gehässige Ablehnung stösst. Sie monieren, der Princeton-Professor sehe Barack Obama lediglich als Präsidenten der schwarzen Amerikaner und nicht als Vertreter der Gesamtbevölkerung. Ausserdem, heisst es, bewege sich West als Repräsentant einer Elite-Universität der Ostküste ja auch nicht eben in einem traditionellen schwarzen Milieu. Indes wirft Chris Hedges, selbst Theologe, liberalen Kritikern seines Freundes vor, „Komfort und Privilegien gegenüber Gerechtigkeit, Wahrheit und Konfrontation vorzuziehen.“
Amerikas Liberale, argumentiert Hedges auf seinem Blog, liessen sich in ihren ideologischen Überzeugungen davon leiten, was ihrer Karriere am meisten nütze: „Sie weigern sich, auf sinnvolle Weise den Zerfall demokratischer Strukturen oder den Aufstieg des Wirtschaftsstaates in Frage zu stellen. Sie übersehen die erbarmungslosen Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung und die imperialen Kriege, welche die Nation in den Bankrott treiben. Sie geben vor, traditionelle liberale Werte hochzuhalten, während sie Machtstrukturen verteidigen und fördern, welche diese Wert Lügen strafen.“
Professor Cornel West dagegen nimmt kein Blatt vor den Mund. Das hat ihm seitens von Rahm Emanuel, dem einstigen Berater Barack Obamas und heutigen Bürgermeister von Chicago, den Vorwurf eingetragen, ein „fucking retard“, d.h. ein geistig behindertes Arschloch zu sein. Wer braucht angesichts solcher (früherer) politischer Freunde noch Feinde?