Unterrichtsqualität wollen alle. Darum wurden in den letzten Jahren die Schulstrukturen gründlich umgebaut. Reform folgte auf Reform. Eine ganze Kaskade. Doch was diese Reformwelle bewirkt und an schulischem Qualitätszuwachs gebracht hat, lässt sich wissenschaftlich nicht genau belegen. Im Gegenteil. Man kennt viele Effekte nicht oder nur zum Teil. Das sei „vernichtend, aber es ist so“, sagt der Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, Stefan C. Wolter. (1)
Der radikale Umbau zielt weiter
Darum wohl soll weiter reformiert werden. Der jüngste Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrats SWR redet Klartext: Nötig sei, so die Autoren der Studie „Soziale Selektivität“, eine „mutige Modernisierung“ des Bildungssystems. Die Jahrgangsklassen sollen aufgelöst, Leistungsstufen beseitigt, die Untergymnasien abgeschafft und der Übertritt in weiterführende Schulen ans Ende der achten Schulklasse verschoben werden. (2)
Warum? Das Schweizer Schulsystem sei sozial ungerecht und ineffizient, so der Wissenschaftsrat. Die familiäre Herkunft bestimme im Bildungstrichter die Chancen auf ein Studium. Der SWR will die Strukturen radikal verändern und den weiteren Umbau vorantreiben. Dabei gibt es „keine Hinweise, dass die Veränderung von Schulstrukturen an sich zu Qualitätsverbesserungen führt. Im ungünstigsten Fall binden Strukturreformen Energie und Kosten, die an anderer Stelle besser investiert wären“, sagt Petra Stanat, Leiterin des Bildungsvergleichs unter den deutschen Bundesländern. (3) Schulqualität bräuchte aber Stabilität in den Strukturen und damit Verlässlichkeit in den schulischen Rahmenvorgaben.
Hohe Investitionen in gute Startchancen
Der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft ist unbestritten. Um Schüler aus sozioökonomisch ungünstigem Elternhaus machen sich Bildungspolitiker und Pädagogen, Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter darum gleichermassen grosse Sorgen. Zu Recht. Sie wachsen weniger mit Geschichten und Gesprächen und kaum mit Büchern und animierenden Vorbildern auf. Sie erwerben seltener die Matura; man trifft sie in geringerer Zahl an der Universität. Ihnen gilt ein besonderes Augenmerk.
Die Chancengerechtigkeit zu verbessern, ist ein wichtiges Ziel. Die Schweiz unternimmt viel. Es sind enorme Summen, die in Stützkurse und Spezialunterricht fliessen; sonderpädagogische Massnahmen und Integrationshilfen verlangen hohe Investitionen. Niemand wird einfach sich selbst überlassen.
Sozial benachteiligte Kinder brauchen exzellente Lehrpersonen
Entscheidend für den Lernfortschritt dieser Kinder und Jugendlichen sind nicht die äusseren Strukturen. Das zeigen viele Studien. Darum überrascht der blinde Strukturglaube vieler Bildungsfunktionäre und mancher Bildungspolitiker. Schulqualität erreicht man vor allem im Unsichtbaren. Dazu zählt die Interaktion zwischen der Lehrerin und ihren Kindern, zwischen Schüler und Lehrer. Wirkungsreich sind eben verdeckte Grössen oder Tiefenstruktur-Merkmale, wie sie der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie nennt. Besonders lernförderlich ist ein Unterricht, in dem die Schülerinnen und Schüler ein positives, fehlerfreundliches Schulklima und ein gutes soziales Miteinander vorfinden. Sie ergeben sich aus unsichtbaren personalen Faktoren wie Glaubwürdigkeit der Lehrperson und verstehender Zuwendung, aus hohen Erwartungen und Ermutigung, aus Vertrauen und Zutrauen.
Vor allem jüngere Kinder und solche mit schwierigerem sozialem Hintergrund benötigen Lehrer, die ihnen Sicherheit geben und ein „Geländer“ für basale wie für anspruchsvollere Lernaufgaben vermitteln. Offener Unterricht und die Dominanz des heutigen selbstgesteuerten und eigenverantworteten Lernens helfen ihnen wenig. Auch das zeigt die Forschung.
Hoher Effektwert gemeinsam definierter Ziele vor Ort
Kinder und Jugendliche brauchen klare Ziele, strukturierte Lernumgebungen, lernförderliche, persönliche Feedbacks, Phasen des bewussten Übens und eine intensive Lehrer-Schüler-Beziehung. Darin sind sich die meisten Lernforscher einig. Diese Eckwerte bilden den Kern von Schule und Unterricht. Es ist das pädagogische Dreieck zwischen Lehrperson, Schülerin und Schüler und Unterrichtsinhalt.
John Hattie weist zusätzlich auf einen eminent wichtigen Punkt hin: die hohe Effektstärke einer gemeinsamen Mission der Lehrerschaft. (4) Eine solche Wirksamkeit entsteht zum Beispiel, wenn alle Lehrpersonen einer Schule sprachlich präzises Feedback erteilen. Die Grundhaltung: Feedback ist mehr als ritualisierte Rückgabe von Lernleistungskontrollen; es reduziert die Diskrepanz zwischen Ist und Soll. Der Schulleitung muss es gelingen, ihre Lehrpersonen davon zu überzeugen. Miteinander definierte Ziele und das Wissen um gemeinsam Wichtiges im pädagogischen Alltag erhöhen den Wirkwert des individuellen Handelns. Davon profitieren vor allem Kinder aus sozial schwachem Elternhaus. Sie würden widerstandsfähig oder „resilient“, wie ein Modebegriff lautet: Sie zeigen trotz ihrer Herkunft gute Lernleistungen.
Lernen bleibt Lernen – und entscheidend ist die Lehrperson
In den letzten Jahren wurden viele Strukturen verändert. Mit hohem Aufwand. Und der Schweizer Wissenschaftsrat will weiter tüchtig umstrukturieren. Doch alle noch so raffinierten Strukturreformen ändern wenig an der veralterungsresistenten Erkenntnis: Bildung ist an Menschen gebunden. Der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern hängt in starkem Masse von der persönlichen Haltung und der fachlichen Kompetenz der Lehrperson und weniger von der jeweils besuchten Schule ab.
Interaktion kommt vor Organisation
Erinnert sei darum an den langjährigen Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologogische Forschung in München, Franz E. Weinert. Auf ihn und seine Kompetenzdefinition beruft sich ja der ganze Lehrplan 21. Der renommierte Bildungswissenschaftler betonte immer wieder: „Nicht die äusseren Schulstrukturen sind letztlich entscheidend, sondern die Lehrperson und vor allem jene Lehrerinnen und Lehrer, die ein hohes Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung verbinden können.“ (5)
Es ist der Grundsatz: Interaktion kommt vor Organisation und vor Struktur, oder eben: Schulqualität erreicht man vor allem im Unsichtbaren. Hans Aebli, früherer Berner Hochschullehrer und Schüler von Jean Piaget, formulierte es so: „Wo eine gute Lehrerin, wo ein guter Lehrer am Werk ist, da wird die Welt ein bisschen besser.“ Das gilt vor allem auch für Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern.
(1) Martin Beglinger: „Das ist vernichtend“, in: NZZ, 31.08.2018, S.53
(2) Soziale Selektivität. Expertenbericht im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR, hrsg. von Rolf Becker und Jürg Schoch (unter Mitarbeit von Eva Hug und Franziska Uebelhart). Bern 2018, S. 34.
(3) Martin Spiewak, Ostdeutsche Lehrer sind engagierter, in: DIE ZEIT, 3.11.2016, S. 71.
(4) John Hattie & Klaus Zierer: VISIBLE LEARNING. Auf den Punkt gebracht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2018, S. 200.
(5) Franz E. Weinert: Für und Wider die „neuen Lerntheorien“ als Grundlage pädagogisch-psychologischer Forschung. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 1996, 10 (1), S. 8.