Präsident Abdrabbuh Mansur al-Hadi hat angeordnet, dass der Sohn des bisherigen Präsidenten, Brigadegeneral Ahmed Ali Saleh, als Botschafter Jemens nach Abu Dhabi, der Hauptstadt der Arabischen Emirate, ausreis. Er hat auch die beiden Neffen des ehemaligen Präsidenten, Tarek und Yahya, bisher Sicherheitschefs, zu Militärattaches in Berlin und in Addis Abeba ernannt. Der ehemalige langjährige Präsident selbst, Ali Abdullah Saleh, ist nach Saudi Arabien ausgereist, um noch einmal medizinisch behandelt zu werden. Er war dort schon einmal in Behandlung, nachdem er bei einem Bombenanschlag im Juni 2011 schwer verletzt worden war.
Die feindlichen Armeeoberhäupter entfernt
Die Entfernung der starken Männer des bisherigen Regimes aus Sanaa ermöglicht es auch, dass deren Hauptwidersacher, General Ali Muhsin al-Ahmar, endgültig von seinem Kommando über 50 000 Soldaten zurücktritt, die bisher in Sanaa und in anderen wichtigen Städten den Soldaten und Sicherheitsleuten, die vom Sohn und von den Neffen des abgesetzten Staatschefs kommandiert wurden, entgegenstanden. Ali Muhsen al-Ahmar ist zum Berater des gegenwärtigen Präsidenten ernannt worden.
Spaltung infolge der Massenerhebung
Die Zweiteilung der jemenistischen Streitkräfte in pro-Saleh und anti-Saleh Einheiten bestand seit dem 8. März 2011. Damals hatte sich Ali Muhsin al-Ahmar gegen den Präsidenten gestellt und war mit seinen Truppen an die Seite der demonstrierenden Massen getreten. Er hatte diesen Schritt getan, weil die Sicherheitskräfte des damaligen Präsidenten das Feuer auf die unbewaffneten Demonstranten eröffnet hatten. Sie erschossen 52 von ihnen und verletzten gegen 200.
General Ali Muhsin war schon zuvor mit dem Sohn und den Neffen des Staatschefs zusammengestossen. Er war seit dem Staatstreich von 1978, der Ali Abdullah Saleh zur Macht brachte, dessen militärischer Partner und Vertrauensmann gewesen. Doch als der Sohn und die Neffen Ali Salehs heranwuchsen, sorgte der Staatschef dafür, dass diese die am besten ausgerüsteten Truppen kommandierten und Verantwortung für die Sicherheit in der Armee und im ganzen Land übernahmen, während Ali Muhsin mit "seinen" Soldaten beiseite geschoben wurde.
Armeekommandanten mit "ihren" Soldaten
Bisher haben die höheren Einheitskommandanten in der jemenitischen Armee "ihre" Soldaten angeworben und eingestellt, obwohl es theoretisch Regeln gibt, nach denen die Rekrutierung vom Staat vorgenommen werden sollte. Die Stammeszugehörigkeit spielte bei diesen "Eigenrekrutierungen" die entscheidende Rolle. Die Kommandanten stellten Soldaten ein und ernannten ihre Offiziere, denen sie vertrauen konnten, weil sie aus ihren eigenen Stämmen oder auch aus Verbündeten ihrer Stämme stammten. Die Salehs gehören zu dem relativ kleinen Stamm der Sanhan und pflegten seine Mitglieder ebenso wie deren Verbündete zu ihren Soldaten und Offizieren zu machen. Auch Ali Mohsen al-Ahmar gehörte zu den Sanhan und verfügte bisher über seine eigenen Vertrauensleute in den ihm unterstehenden Einheiten, wobei Bündnisse und Unterabteilungen der Stämme ebenfalls eine Rolle spielten.
Wegen seiner Nähe zu seinem 30 Jahre lang übermächtigen Vater konnte der Sohn Ahmed als grosszügiger Patron "seiner" Soldaten von der Präsidialgarde auftreten. Er sorgte dafür, dass sie erhöhten Sold, das Doppelte der gewöhnlichen Soldaten, eigene Wohnungen, eigene Märkte für Lebensmittel, aber auch bessere Bewaffnung und Ausbildung erhielten. Natürlich war er bei seinen Soldaten dementsprechend beliebt.
Die Schattensoldaten
Bei den nicht zur militärischen Elite gehörigen Einheiten der jemenitischen Armee, die ebenfalls auf Grund der Stammeszugehörigkeit ausgehoben wurden, gibt es das Phänomen der Schattensoldaten. Dies sind Soldaten, die keinen Dienst tun und sich nur manchmal, zu Paraden einfinden. Sie erhalten Sold und Unterhaltsspesen von Seiten der Militärverwaltung. Doch ihre Kommandanten behalten einen Teil dieser Gelder für sich. Schliesslich können die Schattensoldaten, solange sie keinen Dienst tun, ihrem eigenen Lebensunterhalt nachgehen.
Das Phänomen ist so verbreitet, dass es als eine der Methoden gilt, mit denen die jemenitischen Behörden und Würdenträger die bewaffneten jemenitischen Stämme bei Laune halten, so dass sie nicht allzu brutal in das wirtschaftliche, politische und soziale Leben der Städte und Dörfer eingreifen.
Doch in den Eliteeinheiten wie jenen der Präsidialgarde, die bisher unter Ahmed Ali Saleh stand, gab es keine Schattensoldaten.
Der Saleh Klan blieb weiterhin mächtig
Das Machtgefüge, das unter dem früheren langjährigen Präsidenten zustande gekommen war und die gesamte jemenitische Gesellschaft durchdrungen hatte, war nicht leicht aufzulösen. Der Rücktritt des Präsidenten alleine genügte nicht, um dies zu erreichen. Ali Saleh blieb in Sanaa und behielt weiter den Vorsitz der von ihm gegründeten und beherrschten Staatspartei, die sich „Allgemeiner Volkskongress“ nennt. Zu seiner Zeit hat diese Partei immer alle Wahlen gewonnen. Sie ist nach wie vor die stärkste Partei im Lande, weil sich die mächtigsten Würdenträger in ihr zusammengeschlossen haben. Doch die gewaltigen Massen von Demonstranten, die gegen die herrschenden Mächte mobil machten und über ein Jahr lang mobil blieben, haben gezeigt, dass der Volkskongress heute nicht mehr tief genug in die Bevölkerung hinabreicht, um Ruhe und Ordnung zu garantieren.
Solange die Söhne und Neffen des abgesetzten Präsidenten ihre Kommandos behielten, war eine Rückkehr Ali Salehs auf Grund eines Staatstreichs nicht auszuschliessen. Er verfügte über die militärischen Mittel dazu. Aus diesem Gund war eine Entmachtung der Saleh Kommandanten entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Übergangsregimes, das der neue Präsident al-Hadi seit einem guten Jahr leitet und das bis Februar 2014 dauern soll - falls man es nicht wird verlängern müssen.
Schrittweise Entmachtung
Die Strategie al-Hadis zur Entmachtung der bisherigen Mächte war einer der kleinen Schritte. Er rief zu einer Reform der jemenitischen Streitkräfte auf, deren Notwendigkeit auch die Offiziere des Landes theoretisch zustimmten. Technische Komitees wurden gebildet, die Einzelheiten ausarbeiteten.
Im vergangenen Januar erklärte al-Hadi sodann, bestimmte Einheiten würden im Zuge der Reform aus den bisherigen Elitetruppen der Präsidialgarde herausgelöst und ihm direkt unterstellt. Dies ging nicht ohne Proteste und Reibungen über die Bühne. Doch es geschah allmählich und erlaubte al-Hadi, sich selbst eine eigene Hausmacht zu bilden.
Der Saleh Klan verlässt Sanaa
Der nächste Schritt war, dass die Verwandten des Staatschefs und ihr Hauptgegenspieler, General Ali Mohsen, ihrer Kommandos enthoben wurden. Doch dies blieb mehrere Monate lang wirkungslos. Die offziell Abgesetzten behielten Kontakt mit "ihren" Unterkommandanten und Soldaten. Solange dies der Fall war, weigerte sich Ali Mohsin seinerseits abzutreten. Al-Hadi musste dies hinnehmen, weil General Muhsin das Gegengewicht gegen die Macht des Saleh Klans bildete. Schliesslich, am vergangenen 10. April, war es soweit, dass die Saleh Verwandten auf ehrenhafte Auslandsposten verwiesen und damit aus Jemen entfernt werden konnten.
Darüber, ob der Ex-Präsident selbst ebenfalls defintiv aus dem Land fernbleiben wird, herrscht Ungewissheit. Ein Sprecher der Präsidentschaft erklärte offen, dies wäre wünschenswert. Doch die Leiter der bisherigen Staatspartei sagten, natürlich werde ihr Vorsitzender, sobald er geheilt sei, zurückkehren und seinen Posten wieder einnehmen.
Internationaler Einfluss
Dass die Saleh Klan Machthaber nun ausser Landes geschickt werden konnten, ist ohne Zweifel auch dem Einwirken der internationalen Vermittler aus den Golfstaaten, Saudi Arabien, Jordanien, den USA und dem Sicherheitsrat zu verdanken. Die gesamte komplexe Übergangslösung, die gegenwärtig prktiziert wird, ist durch ihre Vermittlung und unter ihrem sanften aber beständigen Druck zustande gekommen. Weiter hat auch der Umstand mitgeholfen, dass der lange geplante Versöhnungskongress aller Jemeniten mit über 500 Teilnehmern, die fast alle Richtungen in dem zerstrittenen Lande vertreten, wirklich zusammentrat und seine Arbeiten anfing.
Der Saleh Klan scheint darauf gesetzt zu haben, dass dieser Kongress nie zustande kommt. Der Sicherheitsrat hatte im vergangenen Februar öffentlich gewarnt, wer diesen Kongress behindere, müsse Sanktionen gewärtigen, und er hatte dabei Ali Abdullah Saleh und den Hauptpolitiker der südlichen Sezessionsbewegung, der in Beirut im Exil lebt, Ali Salem al-Baid, als vermutete Drahtzieher gegen den Versöhnungskongress mit Namen genannt.
Der Kongress tagt in Arbeitsgruppen
Der Kongress ist eröffnet worden und er hat sich, nicht ohne innere Spannungen in neun verschiedene Untergruppen geteilt, deren jede eines der politischen Grundprobleme Jemens behandeln und Lösungsvorschläge erarbeiten soll. Dies soll zwei Monate lang dauern. Dann soll der Kongress wieder voll zusammentreten und beginnen, endgültige Massnahmen zu treffen. Dazu soll auch eine Verfassung für Jemen gehören, und ihr würden Wahlen folgen. Das ganze wäre bis zum Frühling 2014 über die Bühne zu bringen.
Mehr Glaubwürdigkeit für den Versöhnungskongress
Die Entfernung der Saleh Machthaber aus Jemen hat die Glaubwürdigkeit des Kongresses in den Augen der Jemeniten gefördert. Sie sehen nun, dass es möglich sein könnte, dass der Kongress nicht nur Beschlüsse ausarbeitet sondern sie auch zur Verwirklichung bringt.
Die Armeeoffiziere und die ausländsichen Beobachter merken freilich auch an, dass die geplante Armeereform mit der Ausbootung der Saleh Kommandanten noch lange nicht durchgeführt ist. Dazu braucht es noch Änderungen von patriarchalischen Zuständen, die bisher den Armeekommandanten erlaubt hatten, "ihre" Soldaten als ihre Machtinstrumente und Geldquellen zu benützen. Die Armee müsste tatsächlich, nicht nur auf dem Papier, dem Staat unterstellt werden. Der Staat aber, wenn alles gut gehen sollte, seinen gewählten Autoritäten.
Die nächste Hürde, Südjemen
Im Augenblick und nach der Entfernung der Saleh Machthaber wird die Haltung der Südjemeniten als das schwerwiegendste aller Hindernisse für die Verwirklichung dieser Aussichten. Nur ein Teil der südlichen Aktivisten, die einen eigenen südjemenitischen Staat oder mindestens Autonomie fordern, hat sich überreden lassen, an dem Versöhnungskongress teilzunehmen.
Andere, die möglicherweise die Mehrheit und mit Gewissheit die Entschlossendsten unter den Separatisten stellen, sind fern geblieben. Sie fordern zuerst einen südjementischen Staat, dann Verhandlungen mit Nordjemen. In Aden animieren sie zu Streiks und rufen zu gewaltlosem Widerstand und zu zivilem Ungehorsam gegenüber Sanaa auf. Ihr wichtigster Politiker ist der erwähnte Ali Salem al-Baid, einst Minister im pro-kommunistischen Südjemen, dann kurzfristig, nach der Vereinigung mit Nordjemen von 1990, Vizepräsident unter Präsident Ali Saleh, darauf aber sein Kriegsgegner im Bürgerkrieg von 1994, den der Norden gewann und seither Exilierter in Beirut.
Unzufriedenheit im Süden
Die Bevölkerung des Südens beklagt sich ziemlich einhellig darüber, dass sie von Sanaa vernachlässigt und diskriminierend behandelt wird. Die - heute schon ziemlich erschöpften - Erdölvorkommen Jemens befinden sich in der Wüste, die einst zu Südjemen gehörte. Die internationalen Behörden und Berater empfehlen Präsident al-Hadi, sich den Südländern gegenüber kompromissbereit und flexibel zu zeigen. Sie hoffen, dass eine Autonomielösung ausgearbeitet werden kann. Doch die Ressentiments und das Misstrauen gegenüber dem Norden sitzen tief in Aden, und der Umstand, dass ein Teil der südlichen Selbstständigkeitsbewegung den Dialog ablehnt, erschwert alle Lösungsversuche.
Hunger
Während so die Machteliten in aller Behäbigkeit ihre Weichen stellen und Positionen beziehen, geht es der jemenitischen Bevölkerung schlecht. Das Kinderhilfswerk UNICEF hat soeben erklärt, die Hälfte aller Kinder des Landes sei unterernährt, und viele von ihnen liefen Gefahr, sich physisch und geistig nicht voll entwickeln zu können. Für grosse Teile der Bevölkerung ist Hunger eine alltägliche Realität.