Am Freitag ist das „Giornale del Popolo“ (GdP) mit weissen Seiten erschienen mit Ausnahme der Titelseite. Die Chefredaktorin Alessandra Zumthor schrieb dort, dass sie nach der erschütternden Mitteilung des Bischofs von Lugano, ihren rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht zumuten wollte, noch Artikel zu schreiben.
Es war ein Blitz aus nicht ganz heiterem Himmel, denn die wirtschaftliche Lage war seit langem prekär. Am Freitag um 18 Uhr erklärte die Chefredaktorin am Radio der italienischen Schweiz, die Redaktion bemühe sich, für den Samstag eine letzte Ausgaben mit teils bereits vorbereiteten Texten zu veröffentlichen. Weiter sucht sie nach einer Möglichkeit, die Publikationen weiterzuführen.
Der Bischof hat keinen Sozialplan
Verleger des GdP – und das ist das Einzigartige in der Schweizer Presselandschaft – ist der Bischof von Lugano, Valerio Lazzeri. Er begründet den schwerwiegenden Entscheid auf der Titelseite mit dem Konkurs der Publicitas AG, welche noch die wenigen Anzeigen vermittelte. Da die Werbeeinnahmen plötzlich wegfielen, fehlten die Mittel, um die Zeitung am Leben zu erhalten. Es könnten noch die Löhne für den Monat Mai bezahlt werden, doch für einen Sozialplan fehlen der Zeitung wie dem Bistum die Mittel.
Das ist die empörende Nachricht. Inzwischen sind schon viele Solidaritätsbotschaften eingegangen. Der Doyen der Tessiner Journalisten und ehemalige Stiftungsratspräsident des Schweizer Presserats, Enrico Morresi, hat den Bischof aufgefordert, eine Sammlung für den Fonds zugunsten der Entlassenen zu organisieren, wobei er eine Spende von 1000 Franken in Aussicht stelllte. In der letzten Ausgabe waren bereits die Adresse und die Kontonummer des Vereins Freunde des GdP abgedruckt. Der katholische Gewerkschaftsverband im Tessin wird sich für die entlassenen Journalistinnen und Journalisten einzusetzen. Diese befinden sich in einer verzweifelten Situation, denn in den Medien im Tessin werden sie kaum eine Stelle finden.
Alleingang ein Fehlentscheid?
Die Stimme der katholischen Kirche, Auflage rund 10’000 Exemplare, war schon lange in Schwierigkeiten. Eine enge Zusammenarbeit mit dem auflagestärksten „Corriere del Ticino“ (ca. 32’000 Exemplare) brachte Werbung und bot eine gewisse Sicherheit, dass die Zeitung eine breite Berichterstattung über kirchliche Angelegenheit und die Entwicklungen im Vatikan beibehalten konnte.
Im vergangenen Herbst drängte der Verlag des Corriere darauf, die Redaktion des GdP müsse um mehr als die Hälfte verkleinert werden. Dieses harte Sparprogramm wollten das Bistum und die Redaktion nicht auf sich nehmen. So entschieden sie sich für die Selbständigkeit, im Vertrauen darauf, die Publicitas werde genügend Werbeeinnahmen vermitteln können. Der mutige Entscheid zur Selbständigkeit wurde jetzt zum Verhängnis, und es gibt verschiedene Stimmen, welche die Trennung vom Corriere als Fehler betrachteten. Anstelle einer stark verkleinerten Redaktion hat das GdP jetzt keine mehr.
In ihrer kurzen Mitteilung gab die Chefredaktorin Zumthor ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es sich nicht um einen definitiven Abschied handle, sondern ein Wiedersehen möglich sein werde. Infolge des plötzlichen Verschwindens der Publicitas war es nicht mehr möglich gewesen, den Übergang zu einer Wochenzeitung vorzubereiten. Deshalb sind die Chancen für ein Auferstehen des GdP in anderer Form gering.
Die von Monsignore Alfredo Leber im Jahr 1926 im Auftrag des damaligen Bischofs, Aurelio Bacciarini, gegründete katholische Zeitung, die er während 57 Jahren bis zu seinem Tod leitete, war jenes Blatt, das im ganzen Kanton gelesen und in jeder Pfarrgemeinde vertreten war. Es war die erste Tageszeitung mit einem späten Redaktionsschluss, so dass die Leser die neusten Sportresultate am drauffolgenden Morgen lesen konnten. Eine weitere Pionierleistung war, dass in den verschiedenen Tessiner Städten Lokalredaktionen aufgebaut wurden. Nach 1983 gab es auch bekannte Chefredaktoren wie Silvano Toppi und den jetzigen Ständerat Filippo Lombardi.
Ende des Tessiner Wunders
Bis vor kurzem staunten viele, dass die starke Pressekonzentration in der Schweiz, wo nur noch wenige Verlage den Markt beherrschen, im Tessin kaum Spuren hinterliess. Noch verfügte das Tessin mit seinen gut 350’000 Einwohnern über drei Tageszeitungen und zahlreiche Publikationen, die wöchentlich oder monatlich erscheinen.
Jetzt bleibt noch der auflagenstarke „Corriere del Ticino“, welcher der Wirtschaft und den Freisinnigen nahesteht. Er beobachtet auch aufmerksam die Lega dei Ticinesi, die in den Regierungen des Kantons und von Lugano stärkste Kraft geworden ist. Die zweite Tageszeitung „LaRegione“, ca. 26’000 Exemplare, steht dem geschrumpften sozialliberalen Freisinn nahe. Sie hat ihre Redaktion in Bellinzona und ist vor allem im nördlichen Tessin, im Sopraceneri stark verbreitet, während der Corriere vor allem in Lugano und im ganzen Sottoceneri gelesen wird.
Beide Blätter haben verschiedene Lokalredaktionen, die teils täglich eine bis drei Seiten über das Luganese, das Mendrisiotto, das Bellinzonese und das Locarnese produzieren und sich in einem ständigen Wettkampf um Neuigkeiten befinden. Wie lange im Tessin neben der Gratiszeitung „20 minuti“ und den Gratis-Sonntagszeitungen „il caffè“ und dem Lega-Blatt „il Mattino della domenica“ zwei abonnierte Tageszeitungen überleben können, ist ungewiss, obschon viele hoffen, diese Konkurrenzsituation möge noch lange bestehen.
Weniger liest man über die eidgenössische Politik und die verschiedenen Regionen der Schweiz. Vor allem bei „La Regione“ fehlen die Journalisten vor Ort. Das trifft immer mehr auch für die Deutschschweizer Presse zu: Keine einzige Tageszeitung von nördlich der Alpen hat im Tessin noch einen festen Korrespondenten. Deshalb sind Radio und Fernsehen der deutschen Schweiz derart wichtig: Sie verfügen über aufmerksame und kompetente Mitarbeiter im Tessin, aber auch in anderen Regionen.
Noch ein Blick zurück. In den späten 80er Jahren existierten neben „Corriere del Ticino“, dem „Giornale del Popolo“, der freisinige „Dovere“, die rechtsfreisinnige „Gazzetta Ticinese“, das CVP-Blatt „Popolo e Libertà“, die SP-Zeitung „Libera Stampa“ und der unabhängige, sozialliberale „Quotidiano“. Diese Vielzahl von Tageszeitungen konnte nicht mehr lange bestehen. Aus den Parteiblättern wurden Wochenzeitungen, und „Il Quotidiano“ musste sein Erscheinen nach zwei Jahren einstellen.
Nach der Schliessung des „Giornale del Popolo“ verbleiben noch zwei klassische Tageszeitungen.