Am 26. Mai griffen maskierte Bewaffnete einen Bus an, der unterwegs war zu dem in der Wüste gelegenen Kloster des Heiligen Samuel. Im Bus befanden sich christliche Familien mit Frauen und Kindern, die an einer Veranstaltung im Kloster teilnehmen wollten.
Die Angreifer trugen Masken und waren mit Maschinenpistolen ausgerüstet. Sie waren in drei Geländefahrzeugen gekommen. Nach Berichten von Augenzeugen bestiegen sie den Bus, erschossen die Männer und nahmen den Frauen ihren Goldschmuck ab. Nachher kehrten sie zurück und schossen Frauen und Kinder in die Knie.
29 Tote
Sie griffen auch einen Privatwagen an, der zum Kloster unterwegs war. Da der Reifen eines ihrer Fahrzeuge geplatzt war, griffen sie als drittes Ziel einen Lastwagen an, in dem sich Arbeiter befanden, die ebenfalls zum Kloster fuhren. Sie töteten die Arbeiter, bemächtigten sich ihres Lastwagens und fuhren in die Wüste zurück.
Der Überfall kostete 21 Personen das Leben, 22 wurden verwundet. Die Zahl der Todesopfer stieg später auf 29. Unter den Verwundeten befinden sich mehrere Kinder, das jüngste soll zwei Jahre alt sein. Zwei andere Kleinkinder befinden sich unter den Toten. Zwei Tage nach dem Anschlag übernahm der IS die Verantwortung. Ob er wirklich hinter der Tat steckt, ist natürlich nie völlig gewiss.
Reaktion auf die Anschläge vom Palmsonntag
Die ägyptische Regierung hat auf den Anschlag prompt reagiert. Ägyptische Kapfflugzeuge bombardierten, wie Präsident al-Sisi am Fernsehen sagte, „Terroristenlager“ sechsmal. Der Präsident sagte, Staaten, die den Terrorismus förderten, müssten bestraft werden. Die staatliche Presse Ägyptens schrieb, es habe sich beim „Terroristenlager“ um ein Lager bei Derna in Libyen gehandelt.
Dieser jüngste Mordanschlag kam, nachdem am vergangenen Palmsonntag, 9. April, zwei Selbstmordanschläge in zwei koptischen Kirchen 41 Todesopfer und über 75 Verwundete gekostet hatten. Präsident al-Sisi hatte auf die Untaten vom Palmsonntag reagiert, indem er in Ägypten den Notstand für drei Monate ausrufen liess.
Ziel: die Kopten
Auch schon vor den Anschlägen an Palmsonntag waren ägyptische Christen, die Kopten, Ziel von Mordanschlägen. Am 11. Dezember 2016 hatte ein Selbstmordanschlag in einer koptischen Kirche in Kairo 29 Menschen getötet und 47 verletzt. Für diese Anschläge und für verschiedene andere im Sinai hatte der „Islamische Staat“ (IS) die Verantwortung übernommen. Der IS hatte auch erklärt, er werde weitere Anschläge gegen Kopten durchführen.
In Ägypten ist der IS in erster Linie im Sinai aktiv. Dort wird er von der Armee seit Jahren bekämpft. Bisher ist es den ägyptischen Sicherheitskräften und dem Militär nicht gelungen, den Aktivitäten der Terrorgruppen beizukommen. Gelegentlich führt der IS auch ausserhalb des Sinais, im Niltal, Anschläge durch. Die Bevölkerung in den nördlichen Teilen der Sinai-Halbinsel sieht sich bedrängt und gefährdet, sowohl durch die Sicherheitskräfte, die rücksichtslos vorgehen, ohne die Zivilbevölkerung zu respektieren, wie auch durch die Terroristen. Viele Kopten aus dem Sinai sind im vergangenen Januar und Februar geflohen und suchten in Ismailiya, der Stadt am Suez-Kanal, und im Niltal Unterschlupf.
al-Sisi unter Zugzwang
Der sofortige Gegenschlag der ägyptischen Luftwaffe auf Derna in Libyen zeigt, dass Präsident al-Sisi sich unter Zugzwang befindet. Er muss sofort reagieren, um den Kopten seines Landes zu zeigen, dass er sie wirklich beschützen will, und zwar mit Taten, nicht bloss mit Erklärungen.
Er weiss, viele der Mitglieder der koptischen Minderheit, 10 bis 15 Prozent der Gesamtbevölkerung, zweifeln daran, dass der ägyptische Staat sie wirklich gleich beschützen will wie die Mehrheit seiner sunnitischen „Vollbürger“. Solche Zweifel gehen auf bittere Erfahrungen über Jahrhunderte hin zurück, doch sie sind akuter geworden, seitdem es radikale Gruppierungen gibt, die offen darauf ausgehen, die „Kopten zu vernichten“.
Ziel ist ein konfessioneller Bürgerkrieg
Mit dem Morden will der IS in Ägypten eine Situation herstellen, wie sie der al-Kaida-Fundamentalist Abū Musʿab az-Zarqāwī im Irak erreicht hatte. Ihm und seinen Kämpfern war es 2006 – zur Zeit der amerikanischen Besatzung – gelungen, solange die irakischen Schiiten mit Bomben anzugreifen, bis diese zurückschlugen. So wurde ein konfessioneller Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten angezettelt, dessen Folgen bis heute nicht überwunden sind.
Eine vergleichbare Entwicklung ist allerdings in Ägypten schwerer zu erreichen als damals im Irak. Die Mehrheitsverhältnisse sind sehr unterschiedlich: In Ägypten beträgt das Verhältnis Sunniten–Schiiten 9:1 zugunsten der Sunniten; im Irak 2:1 zugunsten der Schiiten, wenn man die Kurden beiseite lässt.
Geschwächtes Regime
Doch sogar wenn die Kopten nicht zu gewalttätigen Reaktionen verführt werden können, bleibt, dass die Mordaktionen die ägyptische Regierung schwächen. Präsident al-Sisi und seine Regierung verlieren Glaubwürdigkeit, wenn sie ihre koptischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht zu beschützen vermögen.
Dabei bieten die Kopten ein „weiches Ziel“. Waffen- und Würdenträger kann der Staat eher schützen als 9 bis 14 Millionen Kopten, Leute sämtlicher Volksschichten, auch Arme und Bauern. Sie alle könnten potentielle Ziele der Terroristen sein. Daher die Notwendigkeit für den Staatschef, rasch und mit demonstrativer Energie auf die Herausforderung der Kopten-Morde zu reagieren.
Derna ist nicht in der Hand des IS
Ob allerdings die Luftangriffe auf Derna in Libyen wirklich die Schuldigen treffen, ist ungewiss. Die Hafenstadt Derna befindet sich seit Juli 2016 nicht mehr in den Händen des libyschen Ablegers des IS. Andere Jihadistengruppierungen haben den IS damals nach längeren Kämpfen aus Derna und Umgebung vertrieben und beherrschen die Hafenstadt in der Cyrenaika seither.
Die Truppen des libyschen Generals Khalifa Haftar, die sich NLA nennen (Nationale Libysche Armee), obwohl sie nur eine Ansammlung von Milizen sind, „belagern“ Derna schon seit Jahren. Doch die dortigen bewaffneten Islamisten, hauptsächlich die Allianz verschiedener libyscher jihadistischer Milizen, die sich DMSC nennt (für: Derna Muslim Shura Council), haben sich bisher zu halten gewusst.
Ägyptische Kampfflugzeuge hatten Derna schon früher bombardiert. Das war im Februar 2015, als der IS noch nicht aus Derna vertrieben worden war. Die damaligen Bombardements waren eine Reaktion auf die Ermordung von ägyptischen Gastarbeitern in Libyen durch den IS gewesen.
Islamisten mit libyscher Agenda
Ob die gegenwärtig dort herrschenden radikalen Islamisten von Derna wirklich für die Aktion gegen die ägyptischen Kopten verantwortlich sind, kann man bezweifeln. Die Leute der jihadistischen DMSC-Allianz haben eine rein libysche Agenda. Sie wollen in Libyen ein „islamisches Regime“ einrichten, nicht wie der IS islamweit. Sie sind gegen den „Islamischen Staat“ mit seiner pan-islamischen Kalifats-Ideologie und bekämpften ihn. Die Sinai-Aufständischen hingegen sind ihrerseits Anhänger des IS; sie haben sich selbst zur „Sinai-Provinz“ des Kalifates erklärt.
General Haftar, der eng mit Ägypten und mit den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammenarbeitet, kann es natürlich recht sein, wenn die ägyptische Luftwaffe Derna bombardiert, eine Stadt, die von seinen Truppen, bisher vergeblich, belagert wird.