1946 verliess die junge Fotografin Sabine Weber die Schweiz in Richtung Paris, ein hervorragendes Lehrabschlusszeugnis in der Tasche. Sie wusste, dass es ein Abschied von ihrer Heimat für immer sein sollte. In ihrer neuen Wahlheimat fand sie den Mann ihres Lebens, den Künstler Hugh Weiss. Nun ist die grossartige Fotografin in der Stadt ihrer Liebe im Alter von 97 Jahren gestorben.
Als die letzte Vertreterin der humanistischen Fotografie wird Sabine Weiss eingestuft, doch sie selbst war mit dieser Klassifizierung nicht zufrieden. Ihre Ausbildung zur Fotografin hatte die im Walliser Saint-Gingolph geborene Schweizerin im Studio des renommierten Fotografen Paul Boissonnas in Genf absolviert und ebenda das Fotohandwerk von Grund auf erlernt.
So war sie, im Unterschied zu vielen männlichen Fotoreportern, die auf autodidaktischem Weg zur Fotografie gekommen waren, in der Lage, tadellose Sachaufnahmen zu erstellen, Werbe- und Modefotografien anzufertigen, mit Kunstlicht und Fachkameras umzugehen sowie die Arbeit im Schwarzweisslabor auszuführen: eine unglaublich vielseitige Fotografin, die in zahlreichen fotografischen Gebieten reüssierte.
Die Kunsthandwerkerin
Eine Fotokünstlerin wollte Sabine Weiss nicht sein, sie sei eine Kunsthandwerkerin, betonte sie immer wieder. Sie konstatiere nur, sie kreiere nicht, lautete ihre Begründung. Tiefstapeln nennt man das gemeinhin, insbesondere angesichts der Qualität von zahlreichen ikonischen Bildern und des fulminanten Œuvres, das die hervorragende Lichtbildnerin hinterlassen hat.
Die höchste offizielle Auszeichnung für kulturelle Leistungen, der Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres, wurde ihr 1999 zuteil. Als Shooting Star feierte man Sabine Weiss vorwiegend in Frankreich und den USA nicht wegen der zahlreichen Auftragsarbeiten, sondern mit ihren freien fotografischen Arbeiten, den vielen bezaubernden Bildern von Strassenszenen mit Kindern, Verliebten, Bettlern und Passanten.
Und ebendiese Fotografien erfüllten die Bedingung, um das Prädikat «künstlerisch» zu verdienen. Die Fotografin war einem inneren Auftrag gefolgt, und in diesen humanistischen Fotografien spiegelt sich ihr Wesen, ihre Empathie, ihr Humor, ihr Talent im Umgang mit Menschen und mit Licht und Schatten, dem Einfangen von einmaligen Momenten am allerbesten.
In 25 öffentlichen Sammlungen vertreten
Ihr Leistungsausweis ist enorm, mehr als 170 monografische Einzelausstellung, über 70 Gruppenausstellung konnte sie im Verlauf von mehr als 60 Jahren als Berufsfotografin realisieren, davon in zahlreichen renommierten Häusern, wo sie in 25 öffentlichen Sammlungen mit ihren Arbeiten vertreten ist.
Sabine Weiss war eine schweizerisch-französische Jahrhundertfotografin. Ihre zauberhaften Fotoarbeiten werden uns noch lange begleiten. Das Museum «Photo Elysée» in Lausanne (vormals Musée de l’Elysée), das nun ihren Nachlass betreut, plant für das Jahr 2024 anlässlich ihres 100. Geburtstags eine grosse Retrospektive.