In Rom trafen sich 17 Aussenminister, unter ihnen jene der wichtigsten europäischen Staaten, der russische, mehrere der arabischen Staaten, und der amerikanische, John Kerry, gemeinsam mit Uno-Vertretern und 15 Libyern. Sie hatten das Ziel, in Libyen eine Einheitsregierung zu fördern. Heute gibt es zwei rivalisierende Regierungen in Libyen – und neben diesen beiden zudem eine grosse Zahl von Milizen, welche Waffen tragen und die wirkliche Macht ausüben.
Hoffnung auf eine Einheitsregierung
Rom strebt nun die Schaffung einer einzigen libyschen Regierung an. Falls diese zustande komme, so sagten die dortigen Aussenminister und Diplomaten, seien die Aussenmächte bereit, diese Einheitsregierung zu unterstützen, um ihr die das effektive Regieren des Landes zu ermöglichen. Dies, so behaupteten sie, sei ein «von Libyern vorangetriebener Prozess». Was auf den ersten Blick den Realitäten nicht ganz entspricht.
Der Vorschlag, wie die Einheitsregierung zustande kommen soll, stammt von dem früheren Uno-Vermittler Bernardino Leon. Vorgesehen wäre ein Einheitsparlament und eine von diesem ernannte Regierung, die im Land Neuwahlen durchzuführen hätte. Das Parlament und die Regierung wären auf der Basis des Parlaments von Tobruk zu bilden.
Jenes von Tripolis soll seinerseits einen Präsidialrat von 9 Personen ernennen, der als eine Art von Senat mit nur konsultativer Bedeutung dem Parlament zur Seite stünde. Die Aussenminister und die Uno-Vermittler hoffen angeblich, die Unterhändler der beiden libyschen Parlamente, die in Skhirat (Marokko) tagen, würden diesen Einheitsvertrag am 16. Dezember unterschreiben.
Die Aussenminister in Rom unterzeichneten ihrerseits eine Erklärung, nach welcher ihre Länder sich verpflichten, einzig mit der erhofften Einheitsregierung Kontakte zu unterhalten und alle anderen Gruppen, die sich der Einheitsregierung nicht unterstellen, zu boykottieren. Dies natürlich nur im Fall, dass diese Einheitsregierung zustande komme. Nach dem Plan wäre sie innerhalb von 30 Tagen durch das neue Einheitsparlament und seinen Konsultativrat zu bilden. Die Aussenminister – unter ihnen Kerry und jene Frankreichs und Italiens – versprachen ausdrücklich, der erhofften Einheitsregierung in allen Bereichen zu helfen, in denen sie um Hilfe ersuche: Organisation des Staates, Wirtschaft, Sicherheit, Terrorbekämpfung.
Besser für Tobruk, schlechter für Tripolis
Doch ob die beiden Parlamente dem Plan endgültig zustimmen werden, ist ungewiss. Die ihn befürwortenden Diplomaten gaben sich hoffnungsvoll. Deutlich ist, dass Parlament und Regierung von Tripolis durch den Plan weniger begünstigt werden als jene von Tobruk. Dies dürfte in Tripolis auf Widerstand stossen.
Die Vermittler und Diplomaten erklären, der Plan könne nicht mehr geändert werden. Er sei nun zu übernehmen oder als Ganzes zu lassen. Die Diskussionen um eine Einheitsregierung unter Führung des Uno-Vermittlers dauern nun schon seit fast einem Jahr.
Wer auf welcher Seite Stellung bezieht, dürfte mindestens teilweise davon abhängen, ob die Betroffenen für sich selbst und ihre Freunde Aussichten sehen, in die Einheitsregierung oder in den Präsidialrat aufgenommen zu werden. Der Rat wurde offenbar zu dem Zweck aufgestellt, Posten für Personen zu schaffen, die keinen Eingang in die Einheitsregierung finden, aber dennoch mitwirken müssen, wenn diese einigermassen repräsentativ werden soll.
Macht der Waffenträger
Die wirkliche Macht in Libyen liegt bei den Milizen und deren Kommandanten – und nicht etwa bei den Parlamenten oder bei den aus ihnen hervorgegangenen Ministern der beiden Regierungen. Die an den Gesprächen teilnehmenden Regierungsvertreter verfügen daher nur dann über Macht, wenn sie als zivile Fassade von Milizen wirken – oder auch als deren Marionetten. Das heisst, dass jene «Delegierten» von «Regierungen», die nach Rom kamen, diesen Schritt entweder mit der Zustimmung bestimmter Milizen unternahmen – oder sie haben in Wirklichkeit wenig zu sagen, weil keine Miliz hinter ihnen steht. Das gleiche gilt auch von jenen Parlamentariern, die zuhause blieben.
Wenn die erhoffte Einheitsregierung zustande kommt, muss auch sie mit der Macht der Milizen rechnen. Sie werden es sein, die sie zu «schützen», aber auch zu steuern beanspruchen. Manche der Beobachter fragen sogar: Was geschieht, wenn die «Einheitsregierung» nicht in der Lage sein wird, nach Tripolis heimzukehren, weil die Minister fürchten müssen, die Waffenträger (genauer: einige der vielen Gruppen von Waffenträgern) könnten sie einsperren oder erschiessen?
Was will «die Mehrheit der Libyer»?
All dies bedeutet nicht, dass die Mehrheit der Libyer den Einheitsplan ablehnt. Vielleicht trifft sogar zu, was die Uno-Vermittler behaupten und auch Kerry in einer Rede erklärte, nämlich: die Mehrheit der Libyer befürworte den Plan. Denn es ist ziemlich deutlich, dass viele der einfachen Libyer nichts anderes wünschen, als dass der Streit und die Kriege ein Ende nähmen. Auch wenn man dies – sogar ziemlich glaubwürdig – behaupten kann: zuverlässig feststellen kann man es nicht, solange keine Wahlen durchgeführt werden können.
Wahlen sind jedoch zurzeit unmöglich. Die Milizen sorgen dafür, dass keine stattfinden. Die Uno-Vermittler und die Aussenminister versuchen diese Hürde dadurch zu überspringen, dass sie ausgewählte Milizen hinzuziehen und dazu bewegen wollen, die erhoffte Einheitsregierung zu protegieren, um gewissermassen als deren Armee zu wirken.
Patronage und blockierte politische Elite
Dies ist allerdings schon einmal dagewesen. Es gab zwischen 2012 und 2014 ein Libysches Parlament und mehrere auf einander folgende Regierungen, die sich gezwungen sahen, den Schutz von ausgewählten Milizen zu suchen, um regieren zu können. Doch schon nach Monaten erwies es sich, dass die Milizenführer begannen, mit bestimmten Parlamentariern «zusammenzuarbeiten» in dem Sinne, dass sie bestimmte Vorhaben der Politiker abwürgten, andere Vorlagen und Pläne, die ihnen passten, förderten – und wo nötig mit Gewalt durchsetzten. Die wichtigste der damals von den Milizen den Parlamentariern aufgezwungen Massnahmen war ein Gesetz, das allen Personen, die mit dem Ghaddafi-Regime zusammengearbeitet hatten, ein Politverbot auferlegt.
Das Ghaddafi-Regime dauerte über vierzig Jahre. Wer in dieser Zeit irgendeine politische oder höhere administrative Funktion ausübte, ist durch dieses Gesetz ausgeschlossen. Dies umfasst so gut wie alle Personen, die in Libyen administrative oder politische Erfahrung besitzen. Den Milizenführern lag an dem Gesetz, weil es die bisherigen Diener des Staates aussperrt. Dadurch stehen den Warlords und ihren Freunden – Personen, welche in manchen Fällen aus den Gefängnissen Ghaddafis rekrutiert worden waren – alle Türen offen. Dieses Gesetz ist in Tripolis weiterhin gültig. Das Parlament von Tobruk hat es abgeschafft. Doch Tobruk hat in der Verwaltung des Landes weniger zu sagen als Tripolis, welches das Zentrum Libyens war und geblieben ist.
Spaltung des Landes
Die Spaltung in zwei Parlamente und zwei Regierungen kam nach den Wahlen von Juni 2014 zustande. Sie hatte ihren Ursprung darin, dass ein Milizbündnis, «Morgenröte Libyens» benannt, über ein anderes Konglomerat von Milizen, die «Zintani», nach bitteren Kämpfen um den Flughafen von Tripolis, im August 2014 siegte. Die Zintani waren (und sind bis heute) säkular ausgerichtet, zur Morgenröte hingegen zählen einige Milizen, die als «islamistisch» eingestuft werden können, weil sie den Muslimbrüdern nahestehen.
Nach ihrem militärischen Sieg setzte die Morgenröte das neu gewählte Parlament unter Druck, weil in den Wahlen von Juni 2014 die Muslimbrüder eine schwere Schlappe erlitten hatten. Dieser Druck, der Todesopfer forderte, zwang das gewählte Parlament, nach Tobruk auszuweichen. Die Morgenröte ihrerseits beschloss, das frühere Parlament «wiederzubeleben», in dem eine viel grössere Zahl von Muslimbrüdern und deren Sympathisanten vertreten gewesen war. So entstanden das Parlament und die Regierung von Tripolis.
Neubeginn wie nach Ghaddafi?
Falls sich die Pläne von Rom verwirklichen und damit Libyen gewissermassen auf Feld eins zurückkehrt, dorthin, wo die libysche Politik nach Ghaddafi begann, nämlich mit einem einzigen von ausgewählten Milizen gestützten Parlament – dann gibt es ein positives und ein negatives Szenario.
Das positive Szenario: Die Aussenmächte arbeiten diesmal so erfolgreich mit der neuen Einheitsregierung zusammen, dass diese schrittweise in die Lage kommt, die Milizen – auch diejenigen, von denen sie sich beschützen lässt – entweder in eine reguläre Armee und Polizei zu überführen oder zu entwaffnen. Ansätze dazu gibt es möglicherweise in der «regulären Armee», über die Tobruk verfügt, und die dem dortigen General Haftar untersteht. Das Problem ist nur, dass Haftar bitter verfeindet ist mit den mächtigen Milizen von Morgenröte und dass er diesen seinerseits als ein rotes Tuch gilt.
Das negative Szenario: In Libyen entstehen drei Parlamente und drei Regierungen, nämlich die beiden bisherigen, die sich auf je «ihre» Bewaffneten und deren politische Wünsche stützen, und zusätzlich die neugebildete Einheitsregierung, die wiederum unter dem Schutz «ihrer» Milizen steht und auf diese angewiesen ist.
Wozu dann natürlich als vierte und zunehmend entscheidende Kraft die Bewaffneten der beiden radikalen islamistischen Ausrichtungen kommen: jene von al-Qaida und die von IS.
IS-Alarm in Europa
Es ist die wachsende Macht von IS in Libyen, welche die in Rom zusammengekommenen Aussenminister und Uno-Vermittler sowie auch einige der libyschen «Parlamentarier» aufgeweckt und dazu getrieben hat, erneut energisch nach einer Lösung für Libyen zu suchen. Italien als Nachbar jenseits des Mittelmeers ist besonders betroffen und hat die Initiative ergriffen. IS hat sich in der Stadt Sirte, im Zentrum von Libyen, festgesetzt und sucht sich über die Wüste hin nach Süden auszudehnen, um die Erdölquellen und Erdölleitungen in seine Macht zu bekommen. Die wichtigsten Erdöl-Ladehäfen liegen ohnehin nah bei Sirte, im Umkreis der Macht von IS.
Es gibt Beobachter, die glauben, IS stehe unter genügend Druck in Syrien und im Irak, um eine Verpflanzung des Hauptquartiers nach Libyen zu planen. Wahrscheinlicher dürfte sein, dass IS versucht, eine weitere Zweigstelle in Libyen einzurichten. Wenn diese Erdölgelder einbringen sollte, kann es IS nur recht sein. Jedenfalls hat IS einige seiner Organisatoren und Ideologen aus Raqqa nach Sirte entsandt. Es ist auch schon davon die Rede, dass IS in Libyen Flugzeuge oder Raketen einsetzen könnte, die bis Rom reichten. «Rom» ist das in den Propagandaschriften herausgehobene Ziel des «Krieges gegen die Kreuzzügler». Angstmache, gewiss, jedoch auch genügend Grund, um Rom wachzurütteln.
Ein besserer zweiter Ansatz?
Das positive Szenario zu verwirklichen, erfordert eine schwierige Gratwanderung. Es müsste eine von «Libyern» getragene Lösung werden. Doch sie dürfte nicht noch einmal fehlschlagen, wie die von Libyern getragene Entwicklung nach Ghaddafi. Und dies, obwohl man gezwungen wäre, unter den gleichen Voraussetzungen zu beginnen, wie sie bei der ersten Fehlentwicklung bestanden. Diese schlechten Voraussetzungen liegen an der Gegenwart und effektiven Macht der bewaffneten Milizen. Kann es diesmal gelingen, die Weichen so zu stellen, dass die Macht der Milizen abnimmt, statt, wie es bisher war, stets nur zu wachsen?
Diese Problematik wirft weitere Fragen auf: Ist eine militärische Intervention unvermeidbar, um die Milizen zu entwaffnen? Wenn ja, durch wen? Könnte der Übergangsprozess unter solchen Umständen wirklich als «von Libyern getragen» gelten? Oder ist es denkbar, dass bei einem zweiten Ansatz zur Überwindung des Chaos die Libyer selbst – vielleicht beraten durch einige Ausländer – die Milizen dazu veranlassen können, sich entweder voll in die Sicherheitskräfte des libyschen Staates einzugliedern oder ihre Waffen abzuliefern?
Marx kritisierte bekanntlich Hegel für die These, grosse historische Ereignisse ereigneten sich sozusagen zweimal, mit der Bemerkung: «Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.» Wer sich an dieses Diktum erinnert, dem fällt es schwer, einem zweiten Ansatz Erfolgschancen zuzusprechen. Doch etwas muss in Libyen geschehen, und vielleicht hat Marx nicht in allen Fällen Recht.