Schulhaus Rütli, Baar, Sandkasten. Die Schüler der ersten Primar dürfen ausnahmsweise in der letzten Stunde sändelen.
Roger hat eine Schaufel. Mauro hat einen Kübel.
Wie immer will der bleiche Roger gar nicht spielen. Er will diskutieren.
“Mein Vater ist ein Linker“, sagt Roger zu Mauro.
Der sommersprossige Junge, Kind von Einwanderern, spricht ganz gut Schweizerdeutsch. Er will aber lieber spielen als sprechen. Eigentlich will sich nur Mauro mit Roger abgeben, denn niemand will sich mit Mauro abgeben (Fremdarbeiterkind) und niemand mit Roger (Besserwisser), dem bleichen, kränklichen Jungen, dessen Äuglein hinter den Brillengläsern flackern, wenn er Ideen hat. Er hat andauernd Ideen, die Lehrerin hat ihm ein Heft besorgt, in das er sie hineinschreiben kann, ohne die anderen zu stören. Im Unterricht ist Roger vor allem theoretisch unterfordert.
“Die Linke“, erklärt Roger, “will, dass die Produktionsmittel allen gehören.”
Mauro sieht skeptisch aus dem sommersprossigen Gesicht, doch er weiss es nicht. Im Gegensatz zu Roger weiss Mauro nicht, was skeptisch bedeutet. Roger schon.
“Du schaust skeptisch.”
Da haben wir es.
“Ein Produktionsmittel ist zum Beispiel dein Kübel.”
“Und deine Schaufel nicht?”
Mauro ist aufgewacht.
“Ohne meine Schaufel nützt dein Kübel nichts. Ohne Kübel nützt die Schaufel nichts. Wenn wir Schaufel und Kübel nicht zusammentun, verrichtet jeder von uns entfremdete Arbeit.”
“Oh!”
“Wir müssen sie also zusammentun, und einer muss das Produktionsmittel verwalten. Am besten der Staat. Sagt mein Vater.”
Mauro wird ganz unwohl. Er fühlt ein Zerren in der Leiste. Weshalb können sie beide nicht einfach spielen: Du gräbst nach Sand, ich halte den Kübel hin, du schaufelst den Sand hinein, ich leere den Sand aus?
Roger aber diskutiert: “Sagen wir mal: Du bist der Arbeiter und ich bin der Staat. Dann gibst du mir deinen Kübel und ich verwalte ihn.”
“Spinnst du? Gib mir zuerst deine Schaufel.”
“Hm, kann ich schon, aber nur gegen Gebühr. Der Staat nimmt Gebühren. Sagt mein Vater. Hast du Geld?”
Über der ganzen Theorie hat Mauro vergessen, aufs Klo zu gehen und jetzt zeigt sich ein kleiner feuchter Fleck auf der Hose.
“Nachher!”, ruft er Roger im Fortlaufen zu. “Ich muss mal… pisciare.”
Roger sitzt am Sandkastenrand. Mauro kommt nicht. Er kommt nicht. Roger betrachtet den Kübel. Da steht er auf, nimmt die Schaufel in die Linke, den Kübel in die Rechte und geht damit nach Hause.
Der Vater liegt gähnend auf der Couch. Er kommt von der Schicht. Er ist müde. Roger steht mit Schaufel und Kübel vor ihm, hält den Kübel hoch und sagt: “Vater, ich habe Mauros Kübel verstaatlicht.”
Er scheucht den Jungen mit einer Handbewegung fort. Nur keine Diskussionen. Bevor er einschläft, denkt der Vater: Der Kleine schlägt aus der Familie. Doch er wird es weit bringen. In jedem System, Scheisskapitalismus oder Scheisskommunismus - völlig egal.