Die griechische Regierung gibt den Musterschüler: demokratisch, fortschrittlich, digital, grün und wirtschaftlich erfolgreich. Die Geschichte um die anfangs Dezember in Brüssel verhaftete Europaabgeordnete Eva Kaili fügt diesem in den letzten Jahren sorgsam gepflegten Bild Risse zu.
Von den Machenschaften ihres italienischen Lebensgefährten habe sie erst erfahren, als die Polizei in ihrer Wohnung unter dem Bett 750’000 Euro fand, gab die ehemalige Fernsehmoderatorin und jetzige Politikerin der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (PASOK), Eva Kaili der belgischen Polizei zu Protokoll. Es wäre «eine schmerzhafte Überraschung», wenn die Vorwürfe gegen den Lebensgefährten bestätigt würden, fügte ihr Anwalt dem Rührstück ein weiteres Kapitel an. Allerdings ist es zu früh, Eva Kaili oder ihren Partner zu verurteilen. Für die beiden Verhafteten gilt die Unschuldsvermutung. Vollständig lautet der Name der Beschuldigten Evdoxia Kaili (griechisch Ευδοξία «Εύα» Καϊλή. Eva ist eine Abkürzung von Ευδοξία (lat. Evdoxia), was ungefähr übersetzt «Die Rechtgläubige heisst. Ob nun die Beschuldigte ihrem Namen gerecht wird, muss die belgische Justiz klären. Aber der Reihe nach.
Problemkinder und Musterschüler
Was hier an die Oberfläche lugt, ist ein politisches Lehrstück erster Güte. Bisher waren in der Europäischen Union (EU) die Rollen klar verteilt. Unten in der Hackordnung befinden sich Ungarn und Polen, die bösen Buben Europas. Dem erstgenannten Land wurden jüngst Unterstützungszahlungen vorenthalten, die ihm zustehen, während bei Polen jüngst wieder ein Auge zugedrückt wird, weil das Land als Drehscheibe zur Ukraine gebraucht wird. Griechenland gehörte während der Finanzkrise zu diesen Problemkindern, hat es aber seit 2015 geschafft, aus dieser Ecke hervorzutreten und geniesst heute einen guten Ruf. Wie hat Hellas das geschafft?
Während der Regierungszeit des in Brüssel unbeliebten Ministerpräsidenten Tsipras verbesserte sich das Klima, weil die linksradikale Regierung entgegen der Erwartung aller Beobachter (auch des hier Schreibenden) wirtschaftspolitisch lieferte. Die griechischen Wähler belohnten das allerdings schlecht und 2019 wurde der Neudemokrat Kyriakos Mitsotakis neuer Ministerpräsident. Ich war von Anfang an skeptisch, ob sein Programm aufgehen würde. Es ging nicht auf. Das haben aber nur wenige bemerkt. Mehr noch: Weder die Tatsache, dass die griechische Regierung die Pressefreiheit immer stärker einschränkt, noch andere autoritäre Massnahmen scheinen im Ausland zu stören. Mitsotakis – ausgebildet in den USA und gut Freund mit den tonangebenden Persönlichkeiten in Washington und Brüssel – gelang es immer wieder, äusseren Umständen wie der Pandemie oder dem Ukrainekrieg die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, dass die wirtschaftlichen Ziele Jahr für Jahr verfehlt werden. Wie schafft es der Spross einer mächtigen Politikerfamilie und Sohn eines Ministerpräsidenten und Bruder einer Aussenministerin international derart gut dazustehen? Richtig, über Jahrzehnte von Familie zu Familie gepflegte Beziehungen spielen eine wichtige Rolle. Aber nicht nur.
Der Abhörskandal und seine politischen Folgen
Der Ministerpräsident dient sich, wie viele seiner Vorgänger in den letzten 200 Jahren, im Ausland als zuverlässiger Partner an. Die Flüchtlingspolitik der EU wird nicht, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban das tut, offen kritisiert – das schliesst aber Massnahmen im Geheimen, die dieser Politik widersprechen, nicht aus – die Familienpolitik (oder besser: Anti-Familienpolitik) wird anders als in Ungarn und Polen am links-grünen westeuropäischen Mainstream ausgerichtet, auch wenn das der griechischen Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der Gesellschaft ganz und gar nicht entspricht. Die Gegenleistung: Keine Fragen zur Innenpolitik, zur Pressefreiheit, zur Unabhängigkeit der Justiz, den Menschenrechten und Toleranz gegenüber dem Schuldenmachen.
Im Spätsommer erhielt diese Erzählung vom Musterschüler erstmals Risse. Bereits bei der Diskussion um den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland war offensichtlich geworden, dass die gestiegene Bedeutung der Türkei zulasten Griechenlands geht – und die Regierung Mitsotakis das untätig hinnimmt. Aber nicht nur das: Das Land hatte beim Besuch von Mitsotakis in Washington in eine neue Nato-Basis in Hellas eingewilligt – ohne Gegenleistung. Damit wird der unbefriedigte Zustand, wonach bei einem Angriff des Nato-Landes Türkei auf das Nato-Land Griechenland der Bündnisfall nicht eintritt, zementiert. Der Hebel, den Mitsotakis in der Hand hielt, hat er nicht benützt. Warum hat er derart offensichtlich die Interessen seines Landes vernachlässigt?
Europäisches Schlusslicht in Sachen Pressefreiheit
Ebenfalls im Spätsommer platzte die Abhöraffäre. Es ist kaum Zufall, dass die Bombe in Brüssel platzte, den es waren die EU-Parlamentsdienste, die den PASOK-Chef Nikos Androulakis darauf aufmerksam machten, dass sein Telefon vom griechischen Geheimdienst abgehört wurde. Die Regierung versuchte sich damit herauszureden, dass das Ganze zwar politisch falsch, aber nicht illegal gewesen sei. Der Skandal zog aber weitere Kreise: Es wurde bekannt, dass nicht nur Oppositionspolitiker wie Androulakis oder Journalisten abgehört wurden, sondern auch Mitglieder der regierenden Neudemokraten – mutmasslich, um sie zu disziplinieren. Der Parlamentspräsident stieg auf ein altes Tastentelefon um, weil das angeblich abhörsicherer ist.
Ein Diskussionsforum unter der Leitung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kooperation mit der griechischen Auslandspresse-Vereinigung stellte jüngst fest, dass das Land in Bezug auf die Freiheit der Presse in Europa die rote Laterne halten würde – dies zeigt der diesjährige Bericht der «Reporter ohne Grenzen». Hellas ist weltweit rangmässig mit Platz 108 von 180 in der Nähe von Sambia, Mali und Brasilien angesiedelt. Die vielgescholtenen Ungarn befinden sich auf Platz 85 und die Polen auf Platz 66. In diesen beiden Ländern ist also die Pressefreiheit viel besser geschützt als in Griechenland. Trotzdem scheint sich am schlechten Abschneiden von Hellas niemand zu stören. Aber: Wie konnte das Land in den letzten Jahren derart abrutschen?
- Offiziell pandemiebedingt, wurden Medien grosszügig subventioniert. Aber nur, wenn sie auf Regierungslinie berichten. Medien, die kritisch berichten, gehen leer aus. Angesichts der Pandemie und der galoppierenden Inflation geht das sofort ans Eingemachte.
- Journalisten werden bedroht und die Berichterstattung über gewisse Themen wie zum Beispiel die Pushbacks an der Grenze zur Türkei erschwert.
- Morde an Journalisten wurden nicht aufgeklärt.
- Auch Journalisten wurden abgehört.
- Strategische Klagen, um Medien einzuschüchtern und Kritik zu unterbinden. Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle aus der Privatwirtschaft wie in der Schweiz die Klage der CS gegen den Finanzblog Inside Paradeplatz und deren Betreiber, sondern um staatlich veranlasste juristische Schritte.
Diese Dinge hätten schon lange in ganz Europa zu Schlagzeilen führen sollen. Taten sie aber nicht.
Dann kam Eva. Sie hatte die Arbeitsbedingungen in Katar noch im November gerechtfertigt und wusste dann nicht, wie das verführerische Geld unter ihrem Bett gelandet ist.
Europa war empört, PASOK-Chef Androulakis handelte umgehend und schmiss Kaili aus der Partei, während das EU-Parlament ihr das Mandat als Parlaments-Vizepräsidentin entzog (darf man das dort so einfach?).
Griechenland staunte – aber aus anderen Gründen. Offenbar hatten die belgische Polizei und Justiz freie Hand, gegen die verdächtigen Politiker vorzugehen – genau wie bei anderen Verdächtigen. Die mutmasslichen Übeltäter wurden beschattet, es wurde ermittelt und als man glaubte, genug Beweismaterial in der Hand zu haben, schnappte die Falle zu. Die Untersuchungshaft gegen Kaili wurde jüngst bis Ende Januar verlängert.
Fehlen einer unabhängigen Justiz
Es ist wiederum kein Zufall, dass diese Bombe in Belgien geplatzt ist. In Griechenland wäre Kaili vermutlich unantastbar. Schon Fernsehmoderatorinnen haben in Hellas den Status eines Stars. Tauchen nun Verdachtsmomente gegen Politiker auf, muss die Justiz den Fall an das Parlament abtreten. Politiker müssen sich in Griechenland nicht einer unabhängigen Justiz stellen. Wenn ein Fall ans Parlament abgegeben wird, dann haben Politiker genug Zeit, um Beweise zu beseitigen. Im Parlament passiert dann meist ausser Polittheater und Schauprozessen, bei denen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament wichtiger sind als Beweise, gar nichts mehr. Korruptionsfälle kommen in Griechenland meist nur aufgrund von Ermittlungen im Ausland ans Tageslicht, dann, wenn sie aufgrund von Untersuchungen in der Schweiz, in Deutschland oder in den USA nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden können.
Der Artikel 86 der griechischen Verfassung garantiert, dass Politiker ihre eigenen Richter sind. Wer Ungarn und Polen kritisiert, wer diesen beiden Ländern fehlende Rechtsstaatlichkeit vorwirft, müsste im gleichen Atemzug die komplette Erodierung der Pressefreiheit in Griechenland kritisieren und die Abschaffung des Artikels 86 der griechischen Verfassung fordern. Alles andere wirkt heuchlerisch und voreingenommen oder ist von politischen Hintergedanken und Voreingenommenheit geprägt.
Zwischen 2004 und 2008 hat sich niemand dafür interessiert, wie die damalige neudemokratische Regierung das Land sehenden Auges ruinierte. Heute geht es in Sachen Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz und Grundrechte um 180 Grad in die falsche Richtung. Wieder interessiert das niemanden!