Ausser dem katholischen Glauben deutet nur wenig auf Rick Santorums italienische Wurzeln hin. Richard John („Rick“) Santorum wurde am 10. Mai 1958 in Winchester (Virginia) als Sohn eines klinischen Psychologen geboren, der 1930 im Alter von sieben Jahren aus Riva del Garda in die USA eingewandert war. Seine Mutter war Krankenschwester und hatte ihrerseits italienische und irische Wurzeln. Sein Übernahme zu Schulzeiten war „Hahn“, angeblich seiner Frisur sowie seiner schon damals ausgeprägten Überzeugungen wegen.
Santorum begann sich während seines Studiums als Jurist in Pennsylvania politisch zu betätigen, für den republikanischen Senator John Heinz, und schaffte 1990 als 32-Jähriger den Sprung ins amerikanische Abgeordnetenhaus, wobei er ganz knapp einen Demokraten besiegte, der sieben Amtszeiten in Washington DC gedient hatte. 1994 gelang Rick Santorum der Wechsel in den US-Senat, wo er trotz seines Status’ als Neuankömmling rasch an Einfluss gewann und für eine glänzende Karriere prädestiniert schien, hätte er 2006 im überwiegend demokratischen Pennsylvania nicht überraschend deutlich die Wiederwahl verloren. Ihm wurde anscheinend zum Verhängnis, dass es seinen Gegnern gelungen war, ihn als abwesenden Volksvertreter zu zeichnen, der sich während des Jahres lediglich „vielleicht einen Monat lang“ in seinem Heimatstaat aufgehalten hatte.
Nach seiner schmerzlichen Abwahl wurde es eher still um Rick Santorum. Er schloss sich in Washington DC einer konservativen Denkfabrik an, zu deren Zielen unter anderen die Bekämpfung des Islamofaschismus gehörte. Er arbeitete als politischer Kommentator für den rechtsgerichteten TV-Sender „Fox-News“. Und er schloss sich 2007 einer Anwaltskanzlei an und wurde Mitglied der Unternehmensleitung einer Firma, die Spitäler managt. Ausserdem schrieb er Kolumnen für den „Philadelphia Inquirer“. Dank dieser Tätigkeiten verbesserte sich auch die zuvor oft prekäre finanzielle Situation des siebenfachen Familienvaters: Santorum verdiente 2010 und in der ersten Hälfte des folgenden Jahres 1,3 Millionen Dollar.
Doch Mitte 2011 kehrte Rick Santorum in die Politik zurück. Am 6. Juni gab er, der 2008 noch für Mitt Romney als Kandidaten der Republikaner gestimmt hatte, am Fernsehen bekannt, er wolle sich als Herausforderer Barack Obamas bewerben - nicht zuletzt, weil er überzeugt war, dass seine Konkurrenten nicht konservativ genug waren. „Ich habe keinen überwältigenden Wusch, Präsident zu werden“, hatte er zuvor seinen Anhängern mitgeteilt: „Ich habe aber den überwältigenden Wunsch, einen anderen Präsidenten der Vereinigten Staaten zu haben.“ Santorums Kandidatur lief sich gut an: Er gewann am 3. Januar. wie sich erst im Nachhinein erhärtete, mit 34 Stimmen Vorsprung auf Mitt Romney bei den Parteiversammlungen in Iowa. Doch in den Vorwahlen danach rangierte der 54-Jährige lediglich noch unter „ferner liefen“. Und auch in den zahlreichen Fernsehdebatten unter den republikanischen Kandidaten vermochte er nicht aufzufallen.
Doch seit dem 7. Februar, seit den Parteiversammlungen in Colorado und Minnesota und der Vorwahl in Missouri, ist Rick Santorum wieder auferstanden. Obwohl er weder über die gut geölte Wahlkampfmaschine noch über die Finanzreserven eines Mitt Romney verfügt, ist es ihm anscheinend gelungen, zumindest vorläufig jene konservativen Wähler zu überzeugen, die sich weder für den hölzernen Ex-Gouverneur von Massachusetts noch für den grossmäuligen Newt Gingrich oder den Sonderling Ron Paul erwärmen können. Santorums Sieg, entgegen den Prognosen, erinnerte an die oft vergessene Binsenwahrheit, wonach weder Kommentatoren, Meinungsbefrager, Polit-Strategen oder etablierte Politiker Wahlen entscheiden, sondern am Ende immer noch die Wähler selbst.
Zwar gilt Mitt Romney, der die uneingeschränkte Unterstützung des Parteiestablishments geniesst, nach wie vor als Favorit für die republikanische Präsidentschaftskandidatur. Über diese entscheiden die Delegierten anlässlich des Parteikonvents im August in Tampa (Florida). Noch sind von den 1144 Delegiertenstimmen, die für die Nomination nötig sind, erst deren 113 definitiv vergeben: 73 für Mitt Romney, 29 für Newt Gingrich, 8 für Ron Paul und 3 für Rick Santorum (30 Stimmen bleiben unabhängig). Das scheinbare Ungleichgewicht (weshalb so wenige Stimmen für Santorum?) rührt daher, dass nicht bei allen Vorwahl-Entscheidungen Delegiertenstimmen zu gewinnen sind. So wurden jüngst in Colorado, Minnesota und Missouri noch keine Delegierten bestimmt. Santorums Renaissance dürfte es Romney aber erschweren, so rasch wie erhofft als Herausforderer der Republikaner festzustehen. Der Vorwahlkampf wird länger dauern und mehr Geld und Substanz kosten, als er ursprünglich gedacht hat.
Auch gilt es zu bedenken, dass wer im Februar eine Parteiversammlung besucht oder in einer wenig wichtigen Vorwahl stimmt, im Herbst bei der Präsidentenwahl wahrscheinlich zu jenen gehört, die für einen Kandidaten die Kärrnerarbeit leisten. Im Winter und im Frühling eines Wahljahres ist jeweils in erster Linie die Parteibasis aktiv, deren Engagement später im Herbst immer wichtiger wird. Die jüngsten Siege dürften Rick Santorum nicht nur mehr Aufmerksamkeit in den Medien, sondern auch mehr Geld beschert haben. Auf jeden Fall nahm seine Super PAC („The Red White and Blue Fund“) nach dem 7. Februar innert 24 Stunden eine Million Dollar ein.
Des Kandidaten Zu Santorums Geldgebern zählt der 71-jährige Foster Friess, ein reicher Geschäftsmann, der die Gläubigkeit teilt und dessen Webseite verkündet, Gott sei „der Präsident meines Verwaltungsrates“. Noch ist nicht bekannt, wie viel Geld Friess Santorum gespendet hat. Der Mann aus Wyoming scherzt nur: „Wenn meine Frau herausfindet, wie viel ich in den Wahlkampf gesteckt habe, und Santorum gewinnt nicht, sprechen Sie im Grunde über Selbstmord.“
Ausser dem Geldfluss werden aber auch die Attacken zunehmen, die Romneys „Kampfhunde“ in Form negativer Werbung am Fernsehen lancieren werden. Zur Meute zählt der 59-jährige Larry McCarthy, von dem heisst, er habe 1988 im Wahlkampf zwischen Michel Dukakis und George H.W. Bush mit einem einzigen Spot die Kandidatur des Demokraten Dukakis beerdigt. McCarthys jüngstes Opfer war Newt Gingrich, den der Werber in cleveren TV-Spots wirkungsvoll als Mann mit dubioser Vergangenheit („too much baggage“) dargestellt hat. Auch Rick Santorum schleppt einiges Gepäck mit sich: seine lukrative Tätigkeit als Lobbyist in Washington DC, seine Nähe zu Lobbyisten, als er noch Senator war sowie seine radikalen Überzeugungen, was Homosexualität, Abtreibung, Geburtenverhütung und die Heiligkeit der Ehe betrifft.
Dagegen spricht für Rick Santorum, dass er unter allen republikanischen Kandidaten wohl der authentischste ist. Er gilt als äusserst zu- und umgänglich, und seine Mitarbeiter pflegten ihn, als er noch im Parlament sass, nicht ehrwürdig mit „Senator“, sondern lediglich mit „Boss“ oder „Rick“ anzureden. Michael Sokolove zufolge, der ihn 2005 für das „New York Times Magazine“ porträtiert hat, ist Santorum in einer Art und Weise glaubwürdig, wie das nur wenige Politiker sind. Der Kandidat, so Sokolove, sage, was er meine, und meine, was er sage – was die Wählerinnen und Wähler spürten. Seine Überzeugungen seien echt und er pflege sie nicht zu wechseln, wie negativ auch immer die Reaktionen darauf ausfielen.
Einer seiner Mitarbeiter nannte Santorum einst „einen katholischen Missionar, den es in den Senat verschlagen hat“. Anders als seine republikanischen Hauptkonkurrenten Romney und Gingrich hat der Ex-Senator auch eine ausgeprägte soziale Ader. „Ihn persönlich treibt der Wille an, Gutes zu tun“, sagt der Demokrat Bob Kerry über seinen früheren Kollegen: „Dazu aber braucht es Geld. Wir geben (in den USA) nicht annähernd genug Geld für soziale Probleme aus. Ich weiss nicht, was er innerhalb seiner Partei erreichen kann, aber vielleicht kann er die Liberalen überzeugen, mehr zu tun.“
In einem Vortrag vor der konservativen Heritage Foundation hat der Katholik Santorum, der zumindest früher fast täglich zur Messe ging, einst seinen religiösen Standpunkt dargelegt. Der Titel des Referats: „Die Notwendigkeit der Wahrheit“. Gemäss Santorum ist es ein Paradox der amerikanischen Gesellschaft, dass sie gleichzeitig gläubig und wertneutral sein will: „Wie ist es möglich, so frage ich mich, an Gott zu glauben, sich gleichzeitig aber zu weigern, sich zu empören, wenn sein Moralkodex verletzt wird? Wie ist es möglich, an Gott zu glauben, absolute moralische Grundsätze aber abzulehnen?“ Bekannten zufolge hat der republikanische Kandidat nicht zuletzt dank des Einflusses seiner Frau zu seinem strikten Glauben gefunden. Karen Garver Santorum, eine früherer Krankenschwester und nicht-praktizierende Anwältin, stammt aus einer Familie mit zwölf Kindern. Santorum selbst hat noch zwei Geschwister, einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester.
Zwar gehen in den USA mehr Leute in die Kirche als anderswo, bekennen sich mehr Bürger als gläubig und gibt es eine Vielzahl verschiedener Glaubensrichtungen. All das aber, schreibt Michael Sokolove, verleite einen zum Schluss, dass die religiöse Freiheit in den Vereinigten Staaten fast grenzenlos sei: „Der Schlüssel zum Verständnis Santorums (und vieler anderer religiöser Konservativer) ist die Einsicht, dass er ehrlich glaubt, sich verteidigen zu müssen. Als gläubiger Mensch fühlt er sich angegriffen, ja sogar in einer Opferrolle gedrängt. So tritt er auf als Verteidiger des ungeborenen Lebens, als Verteidiger jener gläubigen Amerikaner, deren Stimmen ungehört verhallen, und jener Institutionen, die er nicht nur als attackiert, sondern als zerbrechlich sieht.“
Erst unlängst hat Rick Santorum, der weder an die Evolution noch an die Klimaerwärmung glaubt, bei einem Auftritt in Texas Präsident Barack Obama vorgeworfen, „dem Glauben gegenüber feindlich gesinnt zu sein“. Die Marginalisierung des Glaubens und die Geringachtung Gott gegebener Rechte in Amerika laufe auf die Zustände nach der französischen Revolution hinaus: „Übrig bleibt eine Regierung, die dir Rechte gibt. Übrig bleiben keine unabänderlichen Rechte. Übrig bleibt eine Regierung, die dir sagt, wer du bist, was du zu tun hast und wann du es zu tun hast. In Frankreich blieb seinerzeit die Guillotine übrig.“ Noch, so Santorum, sei es zwar in Amerika nicht so weit. Falls es aber nach dem Willen Obamas gehe, gerate die Nation auf eine schiefe Ebene.
Vorerst aber muss Rick Santorum beweisen, dass seine jüngsten Siege nicht nur ein weiteres Strohfeuer im an Kehrtwendungen reichen republikanischen Wahlkampf waren. Am 22. Februar geht die nächste Fernsehdebatte über die Bühne und am 28. Februar folgen Vorwahlen in Arizona und in Mitt Romneys Heimatstaat Michigan, bevor dann am 3. März im Staat Washington Parteiversammlungen stattfinden und am 6. März, am „Super Tuesday“, elf Staaten gleichzeitig wählen. Mitt Romney hofft vor allem auf Michigan, während sich Newt Gingrich am 6. März in seinem Heimatstaat Georgia Chancen ausrechnet.
Zumindest ist Rick Santorums neu motiviertem Wahlkampfteam das Lachen noch nicht vergangen. Sein Geldgeber Foster Friess erzählte am vergangenen Freitag anlässlich eines Konservativen-Treffens im „Marriot“ in Washington DC folgenden Witz: „Ein Konservativer, ein Liberaler und ein Moderater betreten eine Bar, worauf der Barmann sagt, ‚Hi, Mitt!“ Der Ballsaal lachte und buhte zugleich, unentschieden wie der Vorwahlkampf bisher insgesamt.