Am Samstag, dem 23. Juli versuchten die ägyptischen Revolutionäre einen friedlichen Massenmarsch zum Hauptquartier des militärischen Oberkommandos Ägyptens durchzuführen, um den herrschenden Armeekommandanten deutlich zu machen, dass "das Volk" mit ihrer Regierung und deren wenig revolutionärem Vorgehen unzufrieden sei.
Zurückgeschlagene Demonstration
Doch sie konnten ihr Ziel nicht erreichen. Die Strasse zum Hauptquartier, das in der bürgerlichen Vorstadt Heliopolis im Nordosten von Kairo liegt, war abgeschnitten: Barrikaden mit Stacheldraht, dahinter Tanks, Armeeoffiziere und weiter dahinter solide Massen von Polizei versperrten den Weg. Der Demonstrationszug, nach Schätzungen 20 000 bis 30 000 Menschen, wurde dann von den Seiten und von hinten her angegriffen. Die Angreifer waren Leute in Zivil, die Knüppel und Messer schwangen. Die Polizei beschoss die Demonstrierenden gleichzeitig mit Tränengaskanistern. Es gab Festnahmen, und die Demonstranten mussten sich in kleinen Gruppen in die Seitenstrassen flüchten. Einige von ihnen wurden verletzt, andere kamen mit leichten Wunden und Prellungen nach einigen Stunden wieder auf ihrem Ausgangsplatz, dem Tahrir Platz, zusammen, wo sie gelobten, den Sitzstreik, der seit dem 18 Juli andauert, weiterzuführen, bis ihre Anliegen Gehör fänden.
Lange Listen von Forderungen der Revolution
Diese Anliegen bilden lange Listen, nicht ohne Variationen. Stets beginnen sie mit "Freilassung der gefangenen Revolutionäre und Ende der Militärgerichte für Zivilisten". Sie gehen weiter über: "Beschleunigung der Aburteilung der Verantwortlichen des alten Regimes und der Polizei" und über viele weitere Punkte bis hin zur "Beschränkung der Machtkompetenzen von SCAF auf rein militärische Belange". In mündlichen Slogans wird auch darüber hinaus weiter gefordert: "Rücktritt von Feldmarschall Tantawi".
Der Feldmarschall und Oberkommandierende amtiert als der Vorsitzende des herrschenden Militärrates. Er war einst ein enger Vertrauter Mubaraks. Viele Ägypter glauben, er schütze ihn heute noch, heimlich.
Mobilisierte Gegendemonstranten
Die Beschreibung der Vorgänge in Blogs und in den ägyptischen Zeitungen, die der Revolution nahe stehen, macht klar, dass die "zivilen" Angreifer der Demonstranten mobilisiert worden waren. Armeeangehörige, so die Blogger, hätten schon am Tag vorher die Bürger von Heliopolis besucht und sie gewarnt, ihrem Quartier stehe eine Invasion durch Unruhestifter bevor. Sie müssten sich gegen sie zur Wehr setzen. Einige der Bewohner der Edelvorstadt hätten diese Anweisungen befolgt und sich mit Messern und Keulen bewaffnet. Ihre zivilen "Kampfgruppen" seien jedoch auch von den in Kairo bekannten Schlägertrupps der Polizei, die man lokal "baltaghiya" nennt, verstärkt und unterstützt worden. Diese "baltaghiya" waren schon in der berühmten Strassenschlacht der Kamele am 28. Dezember in Kairo spektakulär in Erscheinung getreten. Offenbar sind die Militärs gewillt, wenn es sein muss, die gleichen Methoden zu verwenden, die schon Mubarak anwandte. Sie haben sie diesmal jedoch taktisch geschickter zum Einsatz gebracht.
Die neue Vielfalt der politischen Ziele
Nicht alle Revolutionäre waren einverstanden mit dem geplanten Marsch. Ein solcher Demonstrationszug mit dem Ziel des militärischen Hauptquartiers war mehrmals diskutiert und auch schon angekündigt worden. Doch die Armee hatte öffentlich davor gewarnt, und dies hatte verschiedentlich dazu geführt, dass die Revolutionsgruppen von ihrem Vorhaben abbliesen. Der Marsch vom 23. Juli dürfte von jenen Gruppierungen organisiert worden sein, welche angesichts der bestehenden Krise über den „Stillstand“ der Revolution“ für eine Vorwärtsstrategie eintreten. Sie sind der Meinung, die Einsätze müssten erhöht werden, um die Revolution wieder auf Touren zu bringen und zu vermeiden, dass sie ermüde und allmählich abklinge.
Ihnen stehen zahlreiche Gruppen entgegen, die ebenfalls an der ersten Revolutionsphase beteiligt waren - bürgerliche sowie islamische und islamistische Kräfte. Sie sind der Ansicht, dass das ägyptische Volk seine Armee verehre und hochschätze, weshalb die Revolution Gefahr laufe, ihre Volkstümlichkeit zu verlieren, wenn sie beginne, sich gegen die Armee aufzulehnen. Ganz abgesehen davon, dass die Armee über bedeutende, wahrscheinlich noch immer entscheidende, Machtmittel verfüge, um ihren Willen durchzusetzen.
Das Projekt einer schrittweisen Demokratisierung
Diese vorsichtigeren Kräfte der Revolution sind gewillt, unter der Führung der Armee, die dies ja versprochen hat, ein parlamentarisches Regime einzurichten. Sie hoffen dann, diese zunächst wohl unvollkommene Demokratie mit Hilfe der neu gewonnenen demokratischen Institutionen zu vertiefen und zu verankern.
Was will die Armee?
Von den Offizieren ist anzunehmen, dass sie in der Tat mehrheitlich ein demokratisches Regime herbeiführen möchten. Doch kann man auch vermuten, es gehe vielen von ihnen gleichzeitig darum, die bisherige Stellung der Armee innerhalb - genauer gesagt an der Spitze - des ägyptischen Staates zu bewahren. Diese Position ist die Grundlage der sehr bedeutenden Privilegien, welche die Armeeoffiziere geniessen. Wirtschaftsexperten glauben, dass fast ein Fünftel des ägyptischen Nationaleinkommens von Unternehmen hervorgebracht werde, welche die Armee aufgebaut hat und dirigiert. Wie gross der Anteil der Streitkräfte am ägyptischen Staatsbudget sei, gilt als ein militärisches Geheimnis.
Wie genau eine echte Demokratie mit der politischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung der Armeeoffiziere zu vereinbaren wäre, müsste erst die politische Praxis der erhofften Demokratie ausarbeiten und aufzeigen.
Zwei Marschrichtungen der Revolution
Heute setzen die gegen den Militärrat SCAF eingestellten Kräfte auf eine Fortführung der Revolution. Sie befürchten, dass die bisherigen Errungenschaften der Revolutionäre in der heutigen Lage durch die Schwerkraft des bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Systems schrittweise annulliert werden. Übrig bliebe bestenfalls eine formale Demokratie unter Beibehaltung aller Privilegierung für die schon bisher besser Gestellten.
Ihre Gegner glauben an ein schrittweises Vorgehen an Stelle des revolutionären. So sollen die bestehenden Missstände, die nicht sofort beendet werden können, allmählich abgebaut werden.
Berichte aus der Welt der Fellachen
Es gibt nun erste Berichte aus dem ägyptischen Hinterland, den Dörfern der Fellachen, die immer noch den Hauptteil der Bevölkerung bilden. Diese Berichte stammen von Revolutionären, die sich einer der zahllosen Parteien angeschlossen haben, welche seit der Revolution offiziell zugelassen worden sind. Ihre Zahl liegt bei 100, und noch immer weitere werden lizenziert. Ihre Aktivisten sind daran, ihre Heimatdörfer oder die Stammdörfer ihrer Familien zu besuchen, um dort für ihre neuen Parteien zu werben und diese überhaupt unter den Bauern bekannt zu machen. Dabei wird klar, dass die Bauern in ihren Dörfern durchaus politisch denken. Sie wissen die Errungenschaften der Revolution zu schätzen. Diese schlagen sich für sie in erster Linie und bisher beinahe einzig darin nieder, dass die Polizei sich korrekter verhält. Zur Zeit Mubaraks hatte sie sogar in den Dörfern brutale Erpressungsaktionen durchgeführt.
Die bisherige Polizei in den Dörfern
Ein Bauer berichtet, er sei einer der kleinsten selbstständigen Bauern seines Dorfes. Die Polizeioffiziere der früheren Zeit hätten ihn ins Visier genommen. Sie müssten halbjährliche Quoten an eingesammelten Feuerwaffen erfüllen. Sie hätten ihn daher eingesperrt und gefoltert, um ihn zu zwingen, seine Waffen herauszugeben. Er habe aber keine gehabt. Er sei so lange misshandelt worden, bis er sich gezwungen sah, ein Gewehr auf dem Schwarzmarkt zu kaufen und es auszuhändigen, um die Verfolgungen zu beenden.
Klientelpolitik
Doch die Bauern denken nicht im Rahmen von Parteien sondern vielmehr im Rahmen von Klientelen. Sie wollen wählen, jedoch fällt ihre Wahl auf jene Personen, von denen sie mit guten Gründen erwarten können, sie seien bereit und in der Lage, ihr Dorfleben zu verbessern, indem sie Regierungsgelder für ihre lokalen Anliegen mobilisieren. Es geht um Dinge wie geteerte Strassen, fliessendes Wasser, Elektrizität und wo - diese schon vorhanden sind – um eine Kanalisation für die Abwässer, um Schulen, Kredite für den landwirtschaftlichen Betrieb usw. Die Bauern scheinen bisher nicht überzeugt davon, dass die neuen Parteien mehr für sie tun könnten als die bisherigen Bosse, die als Vermittler zwischen ihnen und der Regierung gewirkt hatten.
Diese ländlichen Machthaber hatten entweder der Staatspartei angehört oder waren, wenn diese sich weigerte, sie auf ihre Listen zu setzen, als Parteilose aufgetreten und hatten sich, nach ihrem lokalen Wahlsieg, der in vielen Fällen ein spektakulärer war, wieder in die Staatspartei aufnehmen lassen, weil sie von dort aus ihre Vermittlungsaktionen am wirksamsten durchführen konnten.
Skeptische Aufnahme der Parteien
Dies ist das uralte Klientelsystem, dass die Fellachen kennen und soweit wie möglich auszunützen versuchen. Nach den Berichten zu urteilen, scheinen bisher nur die wenigsten von ihnen überzeugt zu sein, dass das neue System mit den konkurrierenden Parteien und deren Programmen für sie wirksamer wäre.
„Chasse gardée" für Parteilose
Das neue Wahlgesetz, das die Militärs von SCAF entworfen und ohne weitere Konsultationen promulgiert haben, scheint diesen Realitäten Rechnung zu tragen. Es bestimmt, dass in jedem Wahlkreis die Hälfte der Kandidaten auf Grund von Listen, die andere Hälfte als unabhängige Individuen gewählt werden sollen. Die radikaleren Revolutionäre haben dies kritisiert. Sie wollen den Listen und damit den Parteien die entscheidende Rolle zuweisen.
Die Armee hinter den Barrikaden
Der Marsch auf das Armeehauptquartier ergab einen ersten direkten Zusammenstoss zwischen den Demonstranten und der Armee. Bisher hatten beide Seiten direkte physische Konfrontationen vermieden. Doch seit dem 8. Juli, als die Demonstranten vor dem Sitz der Regierung von der Polizei blutig zurückgewiesen worden waren, hatte sich abgezeichnet, dass die Lage zwischen den beiden Mächten sich zuspitzte. Eine Kraftprobe war nur noch eine Frage der Zeit geworden.
Ein Ende oder weitere Zusammenstösse?
Nun ist abzuwarten, ob es bei dieser ersten direkten Auseinandersetzung bleiben wird, oder ob die radikaleren Gruppen unter den Revolutionären weiter in der Lage und willens sein werden, die Konfrontation fortzuführen. Diese Konfrontation roht zu Ungunsten der Demonstranten auszugehen.
Grosse Teile der einst geeinigten protestierenden Gruppen lehnen heute eine Herausforderung der Armee ab. Und auch unter den an der Revolution nicht direkt beteiligten Bürgern erhält die Meinung mehr und mehr an Gewicht, die beständige Agitation müsse abklingen. Eine wirtschaftliche und politische Normalität sei zurückzugewinnen.