Die abrupte Kehrtwendung in der chinesischen Covid-Politik stellt eine Revolution dar. Unklar ist, ob der starke Mann Chinas Xi Jinping diese ausgelöst hat oder ob, im Gegenteil, er durch ein unzufriedenes Kollektiv an der Spitze von Partei und Staat dazu gezwungen wurde. Und. Ändern sich nun auch andere Parameter chinesischer Politik?
Die Hintergründe der abrupten Kehrtwendung in der chinesischen Covid-Politik im Dezember 2022 bleiben unklar. Der Wechsel von rigoroser Abschottung, welche das wirtschaftliche und soziale Leben im Riesenreich teilweise zum Erliegen brachte und wütende Proteste auslöste, hin zu praktischem Laissez-faire gegenüber einer Krankheit, die trotz Millionen von Toten nun als «normale Grippe» bezeichnet wird, kann durchaus als stille Revolution bezeichnet werden. Dies umso mehr, als auch der bis vor kurzem noch anschwellende, feindliche Tenor der kommunistischen Partei gegenüber der Privatwirtschaft verstummt ist. «Staatsfeinde» wie Didi, die chinesische Variante von «Uber», werden rehabilitiert. Entsprechend haben die chinesischen Tech-Aktien allgemein ein spektakuläres Comeback gefeiert.
Experten und Beobachter sind sich unschlüssig, was genau passiert ist. Zwei grundsätzlich verschiedene Theorien stehen sich gegenüber.
Xi als noch stärkerer Mann
Die erste Theorie besagt, dass Xi sich nach seiner Bestätigung am 20. Parteikongress im Oktober 2022 als alleiniger Herrscher und Meinungsführer leisten konnte, die bisherige Covidpolitik und damit auch seinen sorgfältig aufgebauten Unfehlbarkeitsnimbus aufzugeben. Die einen sagen, er habe als Pragmatiker eingesehen, dass «Zero-Covid» nicht länger aufrechtzuerhalten sei und der wirtschaftliche Begleitschaden zu gross werde. Andere glauben zynischer, dass «Kaiser Xi» seinem unbotmässigen Volk habe zeigen wollen, was der Wegfall all seiner Restriktionen bedeute und es so bestrafe.
Für viele im Westen, darunter insbesondere Vertreten von Wirtschaftsinteressen, spielt vor allem eine Rolle, dass China nun wieder offener ist, «back to business». Man feiert die Rückkehr auf den «grössten Markt der Welt». In einem NZZ-Interview sieht etwa der neue UBS-Verwaltungsratspräsident eine rosige Zukunft für die Vermögensverwaltung seiner Bank. Dies auch wenn erwiesen ist, dass nur rund ein Fünftel der chinesischen Gesamtbevölkerung von rund 1,2 Mia. Einwohnern als kaufkräftige Konsumenten von westlichen Waren und Dienstleistungen gelten kann.
Das Kollektiv ist zurück
Andere Quellen, insbesondere in China, sehen ein ganz anderes Szenario. Selbst seinen von ihm am 20.Parteikongress ernannten Akolythen sei die Zero-Covid Politik zu viel geworden; so hätte ein bislang gesichts- und namenloses Kollektiv auf höchster Ebene Xi teilweise entmachtet und die erwähnten Politikwechsel in Gang gebracht. Darauf könnte auch hindeuten, dass der bis vor kurzem noch zelebrierten «unverbrüchlichen Freundschaft zwischen Xi und Putin» nun eindeutig distanziertere offizielle Erklärungen aus Beijing folgen, wonach «Krieg unbedingt vermieden werden müsse».
Allerdings ist unklar, wie weit eine solche Entmachtung, falls sie tatsächlich stattgefunden hat, geht oder noch gehen wird. Ein Xi, der intern um seine Position kämpfen muss, würde – auch international – eine grössere, nicht kleinere Gefahr bedeuten. Nehmen wir den Taiwankonflikt, wo sich Xi persönlich verpflichtet hat, die Insel «heim ins Reich zu holen». Er könnte versucht sein, wenn er dazu noch in der Lage ist, ein militärisches Abenteuer zu wagen, um seinen persönlichen Alleinvertretungsanspruch aller Chinesen zu bekräftigen.
Geopolitische Parameter
Dem Wunsch von Wirtschaftsinteressen eines «back to business as usual» mit China steht indes die geopolitische Wirklichkeit entgegen. Auch wenn sich Xi Jinping und Präsident Biden im November anlässlich der G-20 Gipfelkonferenz getroffen und weitere chinesisch-amerikanische Treffen auf hoher Ebene stattgefunden haben oder geplant sind, deutet nichts auf einen grundsätzlichen Wandel hin von Kaltem Krieg zur Détente. Im Gegenteil. Jedenfalls im nichtchinesischen Asien wird China weiterhin als mögliche und zunehmende Gefahr wahrgenommen.
Japan rüstet auf mit ausdrücklicher Zustimmung aus Washington und verlagert militärische Ressourcen auf seine südlichsten Inseln, nahe bei Taiwan. Angesichts von immer drohender werdender Nuklear- und Raketentechnologie von Nordkorea – welches Beijing offensichtlich nicht zurückbinden will – prüft Washington eine Weitergabe der Bombe an Seoul. Indien schliesst sich angesichts andauernden chinesischen Provokationen an seiner Himalaya-Grenze sicherheitspolitisch immer deutlicher dem Westen an.
Die Gleichschaltung von Hongkong mit dem chinesischen Festland läuft weiter. Falls in Beijing wirklich eine neue, weniger konfrontative Linie neu das Sagen hat, könnte sie mit einer radikal anderen Politik – zurück zum Sonderstatus dieser vormaligen Brücke zwischen China und der Welt – ein Zeichen setzen. Solange solches nicht geschieht, kann nicht von einer wirklichen Entspannung gesprochen werden. Das bekannte geopolitische Risiko bleibt unverändert.