Es gibt Begriffe, die kommen und gehen. Hell leuchten sie am Wörterhimmel und verglühen bald wieder: flinke Modeparolen mit kurzer Karriere. Neu aufgetaucht ist der Ausdruck der Resilienz – als sprachlicher Reflex auf aktuelle Krisen? Ein Klärungsversuch.
Resilienz ist in vieler Munde; man hört das Wort bald überall: Unsere Kinder sollten in der Schule resilient werden, und wir Erwachsenen müssen es gegen Fake-News sein. Von jeder Fussballmannschaft wird Resilienz gegen emotionalen Stress aus Rückschlägen verlangt. Selbstverständlich haben auch unsere Schweizer Seen im Wandel des Ökosystems Resilienz zu entwickeln.[1] Ebenso zwingend ist natürlich die finanzielle Resilienz des Staates![2] «Resilienz wird zur Kernkompetenz», meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ.[3] Und dass es Resilienz-Trainerinnen und eine universitäre Resilienzforschung gibt, überrascht wohl niemanden – dies im «Zeitalter der Resilienz», wie Jeremy Rifkins Buch von 2022 heisst – mit dem Untertitel «Leben neu denken auf einer wilden Erde».
Resilienz als seelische Widerstandskraft
Widerstandsfähig werden und innere Stärken entwickeln, sagte man früher; resilient sein heisst das heute. Doch was bedeutet der Begriff konkret? Am leichtesten lässt er sich über die Physik oder über Werkstoffe erklären: Es ist die Fähigkeit von Materialien, nach Verformungen und Deformationen wieder in die ursprüngliche Form zurückzukehren, wie das beispielweise ein Gummi tut. Das lateinische Wort «resilire» heisst so viel wie «abprallen» oder «zurückspringen» in den Ursprungszustand.
Übertragen bedeutet Resilienz seelische Widerstandskraft: Es ist die Fähigkeit eines Individuums, Krisen und persönliche Rückschläge so zu bewältigen, dass es daran nicht zerbricht, sondern daraus vielleicht sogar gestärkt hervorgeht – durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen. Es ist eine Art psychischer Robustheit oder der Glaube an die eigene Stärke und daran, dass ich eine bestimmte Situation selber bewältigen und lösen kann. Die Forschung spricht von Selbstwirksamkeit.
Literarische Vorbilder
Wir kennen viele solcher Geschichten und Schicksale von resilienten Menschen; sie haben Schweres erlebt und sind daran doch nicht zerbrochen. Zu ihnen gehört beispielsweise der österreichische Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl (1905–1997). Er überstand vier Konzentrationslager, darunter Auschwitz. Bekannt geworden ist er u. a. durch sein Buch «… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager». Nicht umsonst schreibt der deutsche Soziologe Heinz Bude vielen Personen, die einen Krieg durchgestanden haben, eine hohe Resilienz zu.[4] Oder eine «Trotzmacht des Geistes», wie Frankl diese Widerstandskraft gedeutet hat.
Aus der Literatur kennen wir Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, Erich Kästners Emil oder Oliver Twist bei Charles Dickens. Es sind widerstandsfähige junge Menschen – darum Vorbild vieler Generationen. Auch die meisten Märchen sind Resilienz-Geschichten, so Aschenputtel und die Bremer Stadtmusikanten. Oder die biblische Erzählung von Josef. Seine Brüder verkauften ihn als Sklaven nach Ägypten; dort stieg er am Hof des Pharaos zum Minister auf. Er bewältigte sein bitteres Los.
Beziehung als Motor der individuellen Entwicklung
Was aber macht Menschen widerstandsfähig oder eben resilient? Das interessierte auch die Wissenschaft. In den 1950er-Jahren starteten die US-amerikanische Psychologin Emmy Werner und ihr Team auf einer hawaiianischen Insel eine Langzeitstudie. Während vierzig Jahren untersuchten sie gegen 700 Kinder eines Jahrgangs und begleiteten sie ins Erwachsenenalter. Ein grosser Teil von ihnen hat in der Jugend bittere Sorgen erlebt, etwa einen Elternteil oder eine wichtige Bezugsperson verloren oder auch schwere Krankheiten in der Familie durchgemacht. Rund ein Drittel der Risikokinder führte trotz schlechter Startchancen ein gutes und erfülltes Leben.
Woran das gelegen hat? Als Kinder hatten diese Erwachsenen feste Bezugspersonen. Das war der entscheidende Faktor. Die stabilen sozialen Kontakte vermittelten ihnen Sicherheit und Vertrauen und förderten ihre Autonomie. Das mussten nicht die Eltern sein; es konnte auch die Lehrerin oder der Trainer im Sportverein sein. Beziehung, so das Fazit der Studie, ist der Motor der individuellen Entwicklung.
Am Widerstand eines Gegenübers wachsen
Genau das bestätigt auch die heutige Bindungsforschung. Die Qualität der Beziehungen zu primären Bezugsfiguren sei einer der stärksten Prädiktoren für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern, heisst es. «Eine sichere, bindungsartige Beziehung [wirkt] allen bisherigen Erkenntnissen zufolge entwicklungsfördernd.»[5] Wie grundlegend diese Beziehungen im Unterricht sind, zeigt auch John Hatties grosse Analyse: In der guten Lehrer-Schüler-Beziehung liegt einer der stärksten schulischen Wirkfaktoren. Kinder können am Du des pädagogischen Gegenübers, auch an seinem Widerstand wachsen und stark werden – und so Resilienz erfahren.
Für die Schaffung von Resilienz gibt es keine Algorithmen
Ein Imperativ bricht sich Bahn: die forcierte Forderung nach Resilienz. Vielleicht haben die gegenwärtigen Krisen von Corona-Pandemie, Ukrainekrieg und Klimawandel, von Finanzen und Lieferketten das Wort so aktuell werden lassen. Es beinhaltet die Fähigkeit, Schock- und Stressereignissen zu widerstehen und sich in Zeiten des radikalen Wandels durch eigene Veränderung zu behaupten.
Doch für die Schaffung von Resilienz gibt es keine Algorithmen. Selbst der Begriff ist unklar. Nur eines weiss man recht genau: Für die spätere seelische Widerstandkraft sind Bindungen wichtig. Menschliche Entwicklung vollzieht sich ganz wesentlich im Kontext von Beziehungen. Das gilt insbesondere für die frühe und mittlere Kindheit. In diesem Lebenszyklus entwickeln sich Bindungen; die Abhängigkeit von Beziehungen ist hier am grössten. Ihnen ist Sorge zu tragen, wenn Resilienz mehr als ein flinkes Modewort sein will.
[1] Seen im Wandel. Flyer der Tagung «Vereinigung der kantonalen Fachleute für Gewässerbiologie und -chemie» vom 14./15.06.2022 in Romanshorn.
[2] Hans-Rudolf Merz/Kaspar Villiger: Die finanzielle Resilienz des Staates zahlt sich aus. In: NZZ, 02,12.2021, S. 18
[3] Horst Wildemann: Resilienz wird zur Kernkompetenz. In: FAZ, 16.05.2022, S. 18
[4] Elena Witzeck: Warum seid ihr so enttäuscht? In: FAZ, 24.03.2013.
[5] Henri Julius (2021): Bindungsgeleitete Interventionen. Das CARE-Programm. Msc. unpubl., S. 10.