Die Anwesenheit unverschleierter junger Frauen bei einer islamischen Prozession hat ein neues Dilemma für radikale Islamisten geschaffen. Es scheint, als setze die neue Generation im Iran staatliche Mittel gegen die staatliche Unterdrückung ein.
Von Afra*
Normalerweise reagieren Sicherheitskräfte und Justiz der Islamischen Republik Iran schnell auf den Widerstand von Frauen gegen den Hidschab-Zwang und schrecken dabei auch nicht davor zurück, physische Gewalt anzuwenden.
Aber mittlerweile sind vier Tage vergangen, seit junge Frauen ohne Hidschab bei einer Aschura-Zeremonie in der Stadt Karaj (Karadsch) anwesend waren, und die zuständigen Behörden haben sich bisher nur mit Drohungen begnügt und diese Frauen nicht verhaftet. Nicht nur die Machthaber, sondern auch Kritiker und Gegner der Islamischen Republik sind mit einem Phänomen konfrontiert, von dem sie bislang nicht einmal geträumt haben.
Ein Video von der Anwesenheit dieser jungen Frauen mit offenen Haaren, das in den sozialen Medien veröffentlicht wurde, zeigt, dass sie keine Angst vor den repressiven Kräften des Regimes haben. Ohne Kopftuch und in lockeren Kleidern geisseln sie sich mit leichten Schlägen. Es hat den Anschein, als wüssten sie nicht, dass sie dabei die grösste Säule der islamistischen Regierung, nämlich den Hidschab der Frauen, ignorieren.
Aschura, die grösste und wichtigste schiitische Prozession
Aschura ist die weltweit grösste Trauerfeier der schiitischen Muslime, bei der sie an die Ermordung Imam Husseins und seiner Gefährten am 10. Tag des islamischen Monats Muharram erinnern. Hussein ist der dritte schiitische Imam, der vor 1344 Jahren im heutigen Irak ermordet wurde. Aschura beinhaltet eine Reihe von traurigen Zeremonien, einschliesslich der Geisselung mit einem Bund von aneinandergeschmiedeten Ketten.
Diese Geisselung soll einer Handlung aus dem Christentum entstammen, die von fanatischen Christen am Tag Karfreitag vollzogen wurde – und teils noch wird. Manche behaupten, dass sie ein vorislamisches iranisches Ritual gewesen sei. Auf jeden Fall wurden im Iran die Aschura-Zeremonien in den vergangenen Jahrhunderten ausgiebig gefeiert. Die Islamische Republik hat seit ihrer Entstehung diese religiöse Zeremonie genutzt, um die Emotionen der Menschen zu evozieren und ihre Zugehörigkeit zum Islam stärker zur Schau zu stellen.
Die Trauerzeremonien an Aschura vollziehen die Geschlechter getrennt; Männer und Frauen trauern in verschiedenen Räumen. Der einzige Ort, an dem es die Möglichkeit gibt, dass beide Geschlechter bei den Zeremonien anwesend sind, ist der Strassenzug der trauernden Männer. Dabei schlagen sie sich entweder mit den Händen auf ihren Kopf und ihre Brust oder sie geisseln sich mit den zu diesem Zweck angefertigten Ketten.
In der Zeit vor der Revolution von 1979 nutzten die religiösen Gegner und Gegnerinnen des Schah-Regimes Aschura für ihre politische Propaganda. In der Islamischen Republik diente diese Trauerfeier zum ersten Mal im Jahr 2009 politischen Protesten. Während der landesweiten Proteste gegen Wahlbetrug, die zur «Grünen Bewegung» führten, nutzten die Protestierende die Aschura-Zeremonien, um ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Diese Proteste wurden von Agenten des islamischen Regimes mit Gewalt niedergeschlagen. Dabei wurden zahlreiche junge Menschen von Regierungstruppen getötet und viele weitere verhaftet und gefoltert.
15 Jahre später erleben wir jetzt die seltsamste, kühnste und kreativste Form des Volksprotests am Aschura-Tag. Meiner Meinung nach zeigt die Anwesenheit junger unverschleierter Frauen im Trauerzug der Männer einen bemerkenswerten zivilen Ungehorsam. In Videos von einigen Trauerzeremonien in anderen Teilen des Iran sehen wir junge Menschen, die angeblich trauern, aber ihr Verhalten unterscheidet sich von dem, das sonst bei solchen Anlässen zu sehen ist. In einem Video führen ein paar junge Leute sogar Bewegungen zu einem Trauerlied aus, die einem Tanz ähneln.
Diese Frauen sind sich bewusst, dass sie von Agenten des islamischen Regimes identifiziert, verhaftet, psychisch und physisch gefoltert und sexuell missbraucht werden können. Ihre Aktionen gehören zum friedlichen Kampf iranischer Frauen gegen ein Regime, das keine Legitimität mehr besitzt und sich nur noch durch nackte Gewalt gegen Kritiker und Kritikerinnen aufrechterhält.
Opposition gegen oder Ausübung von Religion auf neue Art?
Die Islamisten und ihre Medien sehen in der Aktion der Frauen in Karaj eine «Zerstörung der Heiligkeit von Aschura» und verlangen nach Bestrafung der «Übeltäterinnen». Einige Sozialexperten im Iran betrachten deren Verhalten jedoch nicht als «Schändung religiöser Heiligtümer», sondern eher als Zeichen für die Entwicklung der Religiosität unter der jungen und zukünftigen Generationen.
Die mit der Regierung verbundene «Organisation der religiösen Räte und Körperschaften» hat dem religiösen Komitee in Karaj, das es Frauen erlaubt hatte, am Trauerzug teilzunehmen, die Lizenz entzogen. Der Polizeikommandant der Provinz Alborz erklärte, die jungen Frauen identifiziert zu haben und sie vorladen zu wollen. Er betonte, die Polizei dulde keine «Normbrecherinnen» und «Normbrecher». Es wurde bereits angekündigt, dass die Justiz diese jungen Frauen strafrechtlich verfolgen wird, unter anderem wegen «Verletzung der Gefühle der Trauernden».
Vom rechtlichen Standpunkt aus kann diese Tat nicht wegen einer «Verletzung der Gefühle der Trauernden» verfolgt werden, da es einen solchen strafrechtlichen Titel im Gesetz nicht gibt. Das Fehlen des vorgeschriebenen Hidschabs kann jedoch nach Artikel 638 des islamischen Strafgesetzbuches bestraft werden.
Lob für die Frauen
Die Mehrzahl der Reaktionen auf die Teilnahme der unverschleierten jungen Frauen an der Aschura-Zeremonie deutet darauf hin, dass diese mutige Aktion unterstützt wird. Basierend auf Veröffentlichungen in den sozialen Medien und den Kommentaren vieler sozialer Aktivistinnen und Aktivisten im Iran kann man sagen, dass ihre Aktion ein starkes und spektakuläres Paradoxon darstellt. Sie offenbart eine andere Dimension der Bemühungen iranischer Frauen um soziale Gerechtigkeit.
Diese Aktion kann als ein bedeutender Schritt in die Geschichte der Kämpfe der iranischen Frauen für Gleichberechtigung und zur Überwindung der Mauern der Unterdrückung eingehen. Sie ist eine der Waffen einer Generation, die einerseits Unterdrückung und Gewalt durch die Regierung und andererseits den Widerstand der vorherigen Generation gegen die Regierung erlebt hat – eine kritische und wütende Generation, deren Existenz von den Islamisten nicht anerkannt wurde und die in keinem der offiziellen Rituale oder in den staatlichen Medien präsent war. Eine Generation, die eigentlich die Zukunft gestalten soll, aber deren Forderungen von den tauben und blinden Machthabern ignoriert werden.
Früher oder später wird diese Generation ihre Forderungen an den islamischen Gottesstaat durchsetzen. Um ihr Ziel zu erreichen, wird sie jedes Mittel einsetzen, auch die Religion.
*Afra ist das Pseudonym einer Teheraner Aktivistin, die unregelmässig für das Iran Journal schreibt.
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