Igor Levit, 36, russisch-jüdischer Abstammung und in Deutschland aufgewachsen, ist heute einer der spannendsten, eigenwilligsten und genialsten Pianisten. Und politisch engagiert ist er auch. «No fear» – keine Angst heisst der Film über ihn.
Nur schon der Versuch, Igor Levit als Künstler und als Mensch begreifen zu wollen, grenzt an Tollkühnheit. Das war auch Regina Schilling klar, als sie sich über ihn schlau machte, nachdem sie gefragt wurde, ob sie eine Film-Dokumentation über diesen Igor Levit drehen wolle.
«Das kam für mich ganz überraschend», sagt Schilling, die für ihre Dokumentarfilme bereits etliche Preise bekommen hat. «Ich bin keine Spezialistin für klassische Musik und bin vor meiner Zusage erst einmal in ein Konzert von Igor Levit gegangen. Da war’s um mich geschehen … Wenn er spielt, verwandelt er sich in eine alte Seele. Das hat mich total fasziniert. Von Anfang an. Da ist einerseits dieses physische Spiel und andererseits die Neugierde: Ich wollte das Geheimnis ergründen, was ich natürlich letztendlich nicht geschafft habe. Das kann man gar nicht … Aber es war der Auslöser für diesen Film.»
Künstler in der Krise
Beobachterin wollte sie sein, «the fly on the wall», wie sie es nennt, die Fliege an der Wand, die kaum auffällt und trotzdem alles im Blick hat. Im Februar 2019 hat Schilling Igor Levit zum ersten Gespräch getroffen. Sie wollte ihn etwa ein Jahr lang begleiten an verschiedene Gastspiele, an Proben und an Einspielungen der Beethoven-Sonaten, an denen Levit gerade intensiv arbeitete. Als Krönung war ein Konzert in der New Yorker Carnegie-Hall vorgesehen, wo er das erste Mal alleine als Solist auftreten sollte.
In diesem Gespräch sagte Levit auch, dass Beethoven in seinem Leben einen grossen Raum eingenommen habe und dann fragte er sich: Aber was kommt jetzt …? «Da war der Künstler in seiner Krise schon greifbar», sagt Regina Schilling. «Das ist natürlich spannend. Und ich glaube, das kennt jeder: Man kommt an einen Punkt und denkt: Ich brauche mehr Platz. Man fühlt sich eingeengt wie in einer Box und weiss noch nicht, wo der neue Raum herkommt. Wie Wachstumsschmerzen, so habe ich das empfunden bei Igor. Und dann Corona – und der Film ist ganz anders geworden.»
Einen Abbruch der Dreharbeiten oder einen Bruch im Film hat es dennoch nicht bedeutet? «Nein», sagt Regina Schilling. «Es hat ja auch zu Igors Krise gepasst. Und seine Offenheit beim Drehen und sein Vertrauen uns gegenüber war ein grosses Geschenk», sagt sie rückblickend.
Atemlosigkeit und Intensität
Und so sehen wir im Film lange Sequenzen, in denen Igor Levit sich intensivstens mit Beethoven beschäftigt, ihn verinnerlicht und die Klaviersonaten durch die Tasten wieder herauslässt, ein Ringen, ein totales Aufgehen in dieser Musik. Levit und Beethoven. Dritter im Bunde ist Andreas Neubronner, sein Produzent und Tonmeister, der die Einspielungen betreut. Auch diese beiden sind eine Einheit, die Zusammenarbeit ist innig, nahtlos und faszinierend. Beim Zuschauen wird man automatisch mitgerissen von dieser Atemlosigkeit, dieser Intensität.
Es war die Zeit des Lockdown. Keine Konzerte, jeder für sich zuhause. Auch Igor Levit. Rund hundert geplante Konzerte wurden abgesagt und Levit beschloss, Hauskonzerte zu machen. Jeden Abend mit seinem Handy live gestreamt auf Instagram und Twitter. Eine musikalische Lebenslinie zwischen sich und seinem Publikum sozusagen. Als Beobachterin zwischendurch dabei: Regina Schilling und ihr Team.
Igor Levit selbst mischte sich in die Dreharbeiten nicht ein. «Es gab keine Zensur seinerseits. Beide, Igor und der Tonmeister, hatten grossen Respekt auch vor unserer Arbeit, da waren beide sehr souverän. Wir haben einfach gedreht, nicht an den Inhalt oder die Länge gedacht. Ich sage immer: Lieber die Schere im Schneideraum als die Schere im Kopf.»
Zuschauen beim Arbeiten
Auf Interviews mit Levit hat Schilling verzichtet. «Ich habe gemerkt, welche Kraft das Material hat, wenn wir Igor einfach beim Arbeiten zuschauen. Das ist viel spannender als stundenlange Gespräche, bei denen man in der Seele des anderen wühlt. So kann sich jeder beim Zuschauen seine eignen Gedanken machen. Der Film lässt viel Raum, sich selbst etwas zu überlegen.»
Auffällig ist auch der Einsatz einer Handkamera im Film, nicht alles ist makellos vom Stativ aus gedreht. «Das war sehr bewusst», sagt Schilling. «Ich wollte den Film im Stil von ‘direct cinema’ machen. Meine heimliche Inspiration war ‘Don’t look back’, ein Film über Bob Dylan und seine England-Tournee aus den 60er-Jahren. Natürlich ist Igor kein Bob Dylan, aber er hat die gleiche Intensität, auch diese Anspannung vor dem Konzert wie ein nervöses Rennpferd, bevor es loslegt. Igor ist nicht der typische Protagonist aus dem Klassikbetrieb, er ist ein Rebell und will ausbrechen aus allem, was ihm ein bisschen zu heilig vorkommt. Ich dachte mir, es passt visuell mit der Handkamera ein bisschen ‘rough’ zu drehen, ungehobelter, ‘go with the flow’ …» Oder auf Deutsch: Man nimmt’s, wie’s kommt, mit Wacklern und Unschärfen, die auch im Schnitt bewusst dringelassen wurden.
Die längste Sequenz, ganz ohne Schnitt, dauert mehr als neun Minuten und ist keine Sekunde langweilig. Igor Levit spielt, wie besessen, der Schweiss tropft in die Tasten, es geht weiter, weiter, weiter … Kein Entrinnen, auch fürs Publikum.
Begnadeter Musikvermittler
Nun läuft der Film in den Kinos und nicht nur Klassikliebhaber und -liebhaberinnen können sich daran begeistern, sondern – hoffentlich – auch ein klassik-ferneres Publikum. «Igor ist ein begnadeter Musikvermittler, der die Klassik aus dem Elfenbeinturm befreien will», sagt Schilling. Und was war für sie selbst die grösste Herausforderung an diesem Film? «Die Ungewissheit! Man bekommt Fördergelder, die Produktion beginnt, dann kommt der Lockdown und irgendwie musste ich den Film doch fertigkriegen. Aber auch ohne Corona muss man beim Dokumentarfilm immer die Ungewissheit aushalten. Ich ziehe los und drehe. Was ich bekomme, bekomme ich – das andere ist weg und nicht nachzuholen. Das ist anders als beim Spielfilm. Man muss mit den Gegebenheiten umgehen und das ist manchmal schwer auszuhalten. Man ist ununterbrochen mit dem eigenen Scheitern konfrontiert … Wenn ich jetzt nicht reagiere oder eine bestimmte Frage nicht stelle, kann ich es nicht nachholen. Insofern passt der Titel ‘No fear’, keine Angst, auch auf mich. Also meinem Instinkt zu folgen und darauf zu vertrauen, dass es gut wird.»
«Igor Levit - No Fear» jetzt im Kino