Doch das ägyptische Volk lehnte sich nun nicht mehr einmütig gegen den Machthaber auf. Es war in zwei Teile gespalten. Jeder Teil warf dem andern vor, die Revolution verraten zu haben. Der neue und demokratisch gewählte Präsident bezeichnete die Demonstranten als "Konterrevolutionäre“. Diese warfen ihm vor, er habe "die Revolution gestohlen". Die Hoffnungen der ersten Revolutionstage sind einer Stimmung der Verzweiflung gewichen. Warum kam es so weit?
Viele Hände an vielen Weichen
Die zwei Jahre seit dem Volksaufstand waren äusserst bewegt. Im Rückblick kann man sagen: Die Revolution dampfte wie ein Zug voran. Mehrmals wurden die Weichen bestimmt und leiteten den Zug in eine andere Richtung. Das Ergebnis ist, dass der Zug nicht geradeaus, sondern im Kreis herum fuhr.
Die ägyptische Gesellschaft befindet sich heute nicht am gleichen Punkt wie vor zwei Jahren, jedoch in einer vergleichbaren Lage. Wohin die Reise geht, ist noch unklar.
Ein Zickzack-Weg
Doch die unterschiedlichen Weichenstellungen der vergangenen beiden Jahre lassen sich beschreiben. Gestellt wurden die Weichen zunächst vom SCAF, also vom "souveränen" Armeekommando, das die eigentliche Macht nach der Entfernung Mubaraks übernommen hatte. Rückblickend hat sich bestätigt, was man damals bereits vermuten konnte: Den Militärs war in erster Linie daran gelegen, ihre wirtschaftliche, soziale und politische Position zu bewahren, die sie in den vorangegangenen 60 Jahren teils offen, teils im Versteckten erworben hatten.
Gleichzeitig hatten die Offiziere jedoch versprochen, sie würden echte Wahlen für ein Parlament und einen Präsidenten durchführen. Diese Wahlen mussten sie, angesichts der aufgebrachten Volksstimmung abhalten, um bei den Ägyptern Gehör zu finden.
Wie viel Demokratie für die Armee?
Doch die beiden Ziele der Armeeführung waren widersprüchlich. Echte Wahlen, die zu einer echten Demokratie geführt hätten, so wussten alle Beteiligten, würden früher oder später auch dazu führen, dass die Armee und ihre Führung unter zivile Kontrolle gestellt würden. Das geheim gehaltene Armeebudget würde von einem echten Parlament diskutiert und möglicherweise in Frage gestellt werden. Ein Verteidigungsminister würde zuständig für die Armeebelange, und er wäre ein Mitglied einer zivilen Regierung.
Der Armeeführung ging es darum, aus der Zwickmühle der beiden gegensätzlichen Ziele herauszukommen. Sie tat dies, indem sie zuerst ihre eigene Macht festigte. Sie erliess eine provisorische Verfassung. Diese bestimmte, dass zwar gewählt werden würde, doch bis zur Wahl eines Präsidenten, die erst nach den Parlamentswahlen geplant war, würde die Militärführung, die sich als "souverän" bezeichnet, selbst die Macht ausüben.
Verlängerte Fristen
Die anfänglich vorgesehenen sechs Monate, in denen das neue Regime eingerichtet werden sollte, zogen sich hin. Viele Einzelheiten waren zu regeln, zum Beispiel, wie genau die Wahlen durchgeführt werden sollten, Majorz? Minorz? Beide Systeme? Keines? Ein höchst ausgeklügeltes "gemischtes" Wahlsystem wurde eingeführt. Zum Schluss kam dann heraus, dass das Wahlsystem "illegal" gewesen sei und dass das neu gewählte Parlament wieder aufgelöst werden müsse.
Lange diskutiert wurden auch die Fragen, wer, in welchen Wahlen kandidieren dürfe und wer nicht sowie wer Ministerpräsident und Regierungschef werden könne. Lösungen wurden vorgeschlagen, dann nach Protesten wieder aufgegeben. Die Zulassung von Kandidaten oder ihre Unzulässigkeit wurde Gegenstand eines juristischen Streites, der bis zum Vorabend der Präsidentenwahl dauerte.
Parteien mussten gebildet werden. Es zeigte sich, dass es nur eine gab, die landesweit organisiert war: die bisher illegalen, aber manchmal geduldeten Muslimbrüder. Die anderen neu gegründeten Parteien waren zunächst über hundert den Ägyptern völlig unbekannte Gruppierungen.
Zwei Jahre sollten vergehen, an deren Ende, nach sehr viel Streit und Erregung, Ägypten zwar einen gewählten Präsidenten besass, jedoch kein Parlament. Dieses soll, zum zweiten Mal, nachdem das erste aufgelöst worden war, womöglich im kommenden Frühling wirklich gewählt werden.
Die Armee und die Richter am Steuer
Haben die Offiziere diese Verzögerungen absichtlich veranlasst? Gewiss nicht alle. Doch im Rückblick ist deutlich zu erkennen, dass sie mehrmals dafür sorgten, dass der revolutionäre Zug nicht in allzu gerader Linie auf sein Ziel hin fuhr. Sie bevorzugten einen Zickzack-Kurs.
Jedermann wusste, dass die Muslimbrüder die grössten Wahlchancen hatten. Die Offiziere versuchten nun zu verhindern, dass die Brüder rasch ihr Ziel erreichten. Sie bestimmten, dass der Hauptkandidat der Muslimbrüder, Mohammed al-Shatir, nicht gewählt werden konnte, weder als Parlamentarier noch als Präsident. Vorwand war, er sei vorbestraft. Vorbestraft war er, zweifellos aus politischen Gründen, vom Mubarak-Regime.
Die Richter als juristische Ratgeber
Das Militärkommando fand einen Partner für seine politische Taktik in den ägyptischen Richtern. Verständlicherweise. Die Spitzen der Richterschaft waren ebenso Kreaturen des abgesetzten Mubarak-Regimes wie die Armeespitzen selbst. Es waren dem Vernehmen nach gewisse Oberste Richter, die mit den Militärspitzen Kontakt aufnahmen, um ihnen die juristischen Wege zu zeigen, die dazu dienen konnten, den Demokratisierungsprozess zu bremsen.
Der wichtigste Schritt dieser Art war die Auflösung des ersten gewählten Parlamentes, in dem die Muslimbrüder eine Mehrheit besassen. Plötzlich hiess es, das Wahlgesetz, nach dem das Parlament gewählt worden war, sei "unkonstitutionell“.
Ein Telefon aus Washington
Dann kam es zur Präsidentenwahl. Auch da gab es juristische Manipulationen. Sie zielten darauf ab zu vermeiden, dass ein Mann der Bruderschaft gewählt werde. Als dieses Ziel nicht erreicht und klar wurde, dass Mursi die Stichwahl sehr knapp gewonnen hatte, brauchte es, wie man heute weiss, einen Telefonanruf aus Washington. Die amerikanische Regierung machte der Armee-Führung klar, dass eine Wahlfälschung nicht toleriert würde. Washington drängte die Offiziere dazu, das wirkliche Wahlresultat zu veröffentlichen.
Ein entmachteter Präsident
Doch am Tag nach dem Wahlsieg des Kandidaten der Muslimbrüder zementierten die Offiziere ihre "Souveränität" mit einer "ergänzenden konstitutionellen Erklärung". Darin erteilten sie sich selbst die legislativen Befugnisse des aufgelösten Parlaments. Sie schrieben auch fest, dass nach einer Auflösung der zweiten Verfassungsversammlung die Offiziere es sein werden, die die Mitglieder der dritten Verfassungsversammlung bestimmen.
Ringen um die Verfassungsversammlung
Eine erste Verfassungsversammlung war, wie vorgesehen, vom Parlament gewählt worden, bevor es aufgelöst wurde. Doch diese erste Verfassungsversammlung wurde von den Gerichten aufgelöst, weil sie nicht repräsentativ sei. Unmittelbar vor seiner Auflösung wählte das Parlament eine zweite Verfassungsversammlung, diesmal auf Grund einer Formel, der alle politischen Kräfte zugestimmt hatten. Doch es gab Klagen vor Gericht, nach denen auch diese zweite Versammlung als nicht repräsentativ aufzulösen sei. Die dritte Versammlung, so legten die Militärchefs in ihrer konstitutionellen Erklärung fest, werde, falls sie bestimmt werden müsse, von ihnen bestimmt.
Die August-Überraschung
Die ersten Wochen nach seiner Wahl, vom 17.Juni bis zum 11. August 2012, stand Präsident Mursi im Schatten der Offiziere. Durch die erwähnte "ergänzende konstitutionelle Erklärung" hatte SCAF sich die Macht zugeteilt, Gesetze und Dekrete zu erlassen. Dem Präsidenten wurde diese Befugnis entzogen. Die Verfassungsrichter stellten sich hinter SCAF.
Doch am 11. August geschah etwas Unerwartetes. 16 ägyptische Soldaten wurden im Sinai von Terroristen ermordet. Mursi ergriff die Gelegenheit, um mit der Armee abzurechnen.
Seltsame Zustände auf Sinai
Was alles in jenen Tagen zwischen den Offiziersspitzen und dem Präsidenten zur Sprache kam, wissen wir nicht. Es wurde und wird weiter geheim gehalten. Man kann jedoch annehmen, dass das gesamte Wesen und Unwesen aufs Tapet kam, das an der ägyptischen Gaza-Grenze bestand und sich während Jahren, seit der Isolierung Gazas durch Israel, abspielte.
Dass dort unrechtmässige Zustände herrschten ist klar, wenn man auf die Hunderte von Tunnels schaut, die unter der Erde gegraben wurden. Manche sind industriell ausgebaut und mit Schienen mechanisiert. Durch sie werden - offiziell gegen den Willen des ägyptischen und israelischen Staates - gewaltige Lieferungen von Schmuggelgütern nach Gaza gebracht: unter anderem Zement, lebendes Vieh, Raketen und Waffen. Angesichts der Abschnürung der 1,5 Millionen Menschen des Gazastreifens durch Israel sind diese Lieferungen unentbehrlich für die Versorgung der Enklave. Die Tunnel- Unternehmer sind die einzigen Leute in Gaza, die reich werden.
Zuständigkeit der Armee
Die Armee, nicht die zivilen Behörden, war und ist weiterhin für die Sicherheit im Sinai und an der Sinai-Grenze zuständig. Man muss annehmen, dass es letzten Endes ihre in Sinai kommandierenden Offiziere waren, die die Bestechungsgelder entgegennahmen. Ohne sie könnte die grossangelegte Schmuggeltransportindustrie durch die Tunnels nicht funktionieren.
Eine neue Armeeführung
Resultat der unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Gespräche und Auseinandersetzungen war, dass es Mursi gelang, die bisherige Führungsspitze der Armeejunta abzusetzen und in die längst fällige - ehrenhafte - Pension zu schicken. Ebenso gelang es Mursi, sich mit dem jüngsten der Junta-Mitglieder zu verständigen, dem Geheimdienstoffizier Abdul Fatah al-Sisi, der als ein gläubiger Muslim gilt. Dieser wurde Oberkommandant der Streitkräfte und Verteidigungsminister. Er sorgte für eine Verjüngung der Führungsspitzen, indem er gegen 200 leitende Positionen neu besetze.
Mursis Quid pro Quo
Als Gegendienst erhielt er von Mursi - wie aus der späteren Entwicklung ersichtlich - die Zusage, dass die Interessen der Streitkräfte, zumindest vorläufig, nicht angetastet werden sollten. Die heute geltende, weitgehend von den Brüdern und ihren Verbündeten formulierte Verfassung berücksichtigt die Grundanliegen der Militärs. Was zeigt, dass eine Übereinkunft, stillschweigend oder ausdrücklich formuliert, bestanden haben muss. Die nun in der neuen Verfassung verbrieften Anliegen der Offiziere sind: weiterhin Geheimhaltung des Militärbudgets und Rechtsprechung durch Militärrichter in allen Belangen, die die Armee angehen. Dazu kommt ein Mitspracherecht der Militärführung im Falle von Kriegserklärungen und die Besetzung des Verteidigungsministeriums durch einen Armeegeneral.
Mursi an der Macht
Durch diesen Kompromiss mit der neuen Armeeführung erhielt Mursi als Präsident freie Hand. Er konnte die "zusätzliche Verfassungsdeklaration" der abgesetzten Armeeführung rückgängig machen und die legislative Gewalt in Abwesenheit eines Parlamentes nun selbst übernehmen. Von jetzt, vom 11. August 2012, an war es der Präsident, der die weiteren Weichen stellte.
Entmachtung der Richter
Mursi stiess mit den Richtern zusammen. Diese hatten die Möglichkeit, auch die zweite Verfassungsversammlung aufzulösen, die von den Abgeordneten des Parlamentes am letzten Tag vor seiner Auflösung als Ersatz für die erste gewählt worden war. Klagen von interessierter Seite lagen vor, auch diese zweite Versammlung sei einseitig zusammengesetzt und nicht repräsentativ. Kurz vor dem Termin, an dem das Verfassungsgericht über das Schicksal der zweiten Versammlung entscheiden wollte, griff Mursi ein. Er erliess nun seinerseits am Abend des 21.November 2012 eine Deklaration. Darin legte er nieder, der Präsident habe vorübergehend die Vollmacht, Entschlüsse zu fassen, welche die Richter nicht aufheben könnten.
Die Fehde mit dem Obersten Staatsanwalt
Zugleich setzte Mursi den obersten Staatsanwalt ab. Er hatte schon früher versucht, ihn loszuwerden, indem er ihn zum Botschafter im Vatikan ernennen wollte. Doch der Oberste Staatsanwalt, ein Geschöpf Mubaraks, hatte sich geweigert zu gehen, und die Richter hatten ihn unterstützt. Mursi hatte damals nachgeben müssen. Nun ernannte er "seinen" Obersten Staatsanwalt. Dieser trat wenig später zurück - auf Druck seiner Kollegen. Doch dann liess er sich überzeugen, doch im Amt zu bleiben. Vor allem veranlasste er, dass der Prozess gegen Mubarak und die andern angeklagten ehemaligen Verantwortlichen neu aufzurollen.
Der Staatsanwalt ist in Ägyptern ein mächtiger Mann. Er kann Untersuchungen anordnen oder ablehnen. Er und sein ihm unterstehender ausgedehnter Untersuchungsapparat bestimmen, ob jemand gefangengenommen wird und wie lange jemand in Gefangenschaft bleibt. Solch eine Gefangenschaft kann lebensgefährlich sein, weil Angeklagte, in deren Fall es den Behörden als zweckmässig gilt, nicht offiziell aber de facto, gefoltert werden, in manchen Fällen solange, bis sie gestehen. Auch unter Mursi, so sagen die Menschenrechtsbeobachter, kommen solche Dinge noch vor.
Das Geschick der Verfassungsversammlung
Der Deklaration Mursis vom 11. November legte auch dar, dass der Präsident im Falle der Auflösung der zweiten Verfassungsversammlung eine dritte endgültige nach eigenem Ermessen bestimmen werde. Es war, wie wiederum aus der Rückschau erkenntlich, in erster Linie die Furcht, dass das Verfassungsgericht die zweite Verfassungsversammlung auflösen könnte, die Mursi veranlasste, den gewagten Schritt zu unternehmen, durch den er die Richterschaft vorübergehend entmachtete.
Dies war nichts weniger als eine Kriegserklärung an die Richterklasse, die seit Mubaraks Zeiten die Spitzenpositionen der Gerichtsbarkeit inne hatte. Die Richter begehrten gegen ihre "illegale" Entmachtung auf. Sie drohten mit einem Streik der gesamten Gerichtsbarkeit. Doch es erwies sich, dass die grosse Masse der niedrigeren Richter sich nicht uneingeschränkt mit ihren Vorgesetzten solidarisierte.
Vollendete Tatsachen in der Verfassungsfrage
Nach gut zwei Wochen der empörten Erklärungen beiderseits versuchte Mursi am 8. Dezember die Richter zu besänftigen, indem er seine Erklärung teilweise zurücknahm. Dies jedoch mit der Einschränkung, dass die Massnahmen, die der Präsident bisher getroffen hatte, bestehen blieben. In der Zwischenzeit war der Verfassungsentwurf im Eiltempo von der pro-islamischen Mehrheit der Mitglieder gegen den Widerstand der säkularistischen Minderheit durchgepeitscht worden.
Die Fehde zwischen Mursi und den Obersten Richtern ist damit nicht beigelegt. Die Richter sind weiterhin bittere Gegner des Präsidenten. Seine Partei, die der Muslimbrüder, hat dafür gesorgt, dass die neue Verfassung die Anzahl der Richter des Obersten Verfassungsgerichtes von 18 auf 11 reduziert. Und es ist noch unklar, ob die Verfassungsrichter gewillt sind, diese Reduktion hinzunehmen.
Keine Verurteilung Mursis
Doch Gerichtsurteile, die den Aktionen des Präsidenten und der Promulgation der neuen Verfassung entgegengetreten wären, fanden nicht statt. Wenn man sich fragt, warum sie nicht stattgefunden haben, muss man die Militärs in Rechnung ziehen. Sie haben nun durch ihren Kompromiss mit Mursi erreicht, was sie wollten. Sie waren und bleiben daher daran interessiert, dass die neue Verfassung, die ihre Anliegen berücksichtigt, in Kraft bleibt. Man kann vermuten, dass es die neue Militärführung war, die den Richtern nahe legte, den Dingen ihren Lauf zu lassen und dass die Richter diesen Wunsch berücksichtigen mussten. Ihre nun eher unsichere Position und Zukunft ist zweifellos besser gesichert, wenn sie sich nicht gleichzeitig mit dem Präsidenten und mit den Militärkommandanten überwerfen.
Eine Verfassung "der Muslimbrüder"
Mursi, der zu befürchten hatte, die Richter könnten die zweite Verfassungsversammlung auflösen und möglicherweise über ihn selbst urteilen, sah sich gezwungen, im Eiltempo dafür zu sorgen, dass die Verfassung Ägyptens von der zweiten Verfassungsversammlung - in welcher die Muslimbrüder und ihre Verbündeten auf Grund der Parlamentswahlen eine Mehrheit besassen - rasch verabschiedet und unter Dach gebracht werde.
Dies gelang ihm, jedoch zu einem hohen Preis. Die Brüder und ihre Verbündeten, die Salafisten, setzten unter Hochdruck Paragraphen um Paragraphen des Verfassungsentwurfes durch. Die säkular gesonnenen Minderheiten unter den Mitgliedern der Versammlung sahen, dass sie regelmässig überstimmt wurden. Sie traten aus Protest zurück und überliessen das Feld ihren Gegnern, den Vorkämpfern einer islamischen Demokratie. Diese brachten den Entwurf in Nachtsitzungen eilig unter Dach und Fach und legten ihn der Bevölkerung vor. Sie gewannen das Plebiszit, jedoch mit geringer Stimmbeteiligung.
Zurück auf die Strasse
Die Säkularisten demonstrierten und protestierten auf der Strasse. Ihre grosse Schwäche liegt darin, dass sie über keine landesweit organisierten Parteien verfügen, die den Muslimbrüdern an den Urnen entgegenzutreten vermöchten. Sie sind jedoch in der Lage, landesweit grosse Massen von Ägyptern auf die Strasse zu bringen, um dort gegen den "Raub der Revolution" durch die Muslimbrüder zu protestieren.
Ihre Aktionen stellen die Brüder vor ein Dilemma. Wenn diese ihre Massen für Gegendemonstrationen mobilisieren, kommt es zu Strassenschlachten und Todesopfern. Solche sind nun, da die Brüder für das Wohl des Staates verantwortlich sind und versuchen, diesen voranzubringen und aus der drohenden Wirtschaftskrise zu retten, keineswegs im Interesse der Bruderschaft.
Gesteigertes Misstrauen
Die politischen Zickzack-Bewegungen der vergangenen beiden Jahre brachten den betroffenen Politikern und Gruppierungen abwechslungsweise Erfolge und Niederlagen. Abwechselnd sahen sich alle Beteiligten von ihren vorübergehend erfolgreichen Gegenspielern bedroht. Es gab Augenblicke, in denen die Muslimbrüder befürchten mussten, sie könnten wieder in die Untergrund gezwungen werden. Dort hatten sie viele Jahrzehnte lang seit ihrer Gründung im Jahr 1928 gelebt. Umgekehrt begannen die politischen Gegenspieler der Brüder, die vielfältig aufgespaltene Front der säkularen Parteien, zu fürchten, die Muslimbrüder könnten, wenn sie an die Macht kämen, im Namen der von ihnen geforderten Islamisierung den Staat übernehmen und sich permanent seiner Führung bemächtigen.
Wer dominiert die Verwaltung?
Beiden, den "säkularen" und den "islamischen" Parteien geht es im Grunde darum, die Führung des Staates zu übernehmen. Das heisst auch, sie wollen die führenden Positionen in der Politik und in der riesigen Verwaltung übernehmen.
Bisher ist es seit 60 Jahren immer der Fall gewesen, dass diese bürokratischen Arbeitsstellen von den säkularen Politikern vergeben wurden. Das hiess auch, sie wurden und sind heute noch von ihren Klienten und Parteigängern besetzt. Die Muslimbrüder waren als verbotene oder bloss am Rande geduldete Gruppe weitgehend ausgeschlossen. Nun aber sind Mursi und seine Regierung bemüht, ihre Anhänger soweit irgend möglich in der Verwaltung zu platzieren. Sie müssen dies tun, wenn sie vermeiden wollen, künftig von einer ihnen feindlichen Bürokratie auf Schritt und Tritt gehemmt und behindert zu werden.
"Verbruderschaftung" Ägyptens?
Doch für ihre Gegenspieler bedeutet dies, dass sie ihre Verwaltungsposten verlieren könnten - oder gefährdet sehen. Deshalb ihr Vorwurf, Mursi monopolisiere "den Staat". Sie wettern gegen die "Verbruderschaftung" Ägyptens und auch gegen den "Raub der Revolution" durch die Brüder. Es geht nicht nur darum, ob der Staat "säkular" oder "islamisch" sein soll, sondern auch darum, wer mit der politischen Obermacht die Verfügungsgewalt über die zahllosen bürokratischen Arbeitsstellen erlangt. Das sind, von den wichtigsten bis zu den unwichtigen, Millionen von Arbeitsplätzen. Alle sind sehr begehrt, nicht nur weil sie bequeme Arbeit versprechen, sondern auch weil sie abgesicherte Anstellungen bieten in einer Gesellschaft, die schwer unter Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung leidet.