„Surprise“-Verkaufende sind Working Poor, welche von der Sozialhilfe unterstützt werden, sich aber mit jedem verkauften Heft etwas dazuverdienen. Menschen in schwierigen Verhältnissen können so arbeiten, Teil am gesellschaftlichen Leben haben und in Kontakt mit anderen Menschen kommen.
Menschen, die materielle Not leiden
Warum ich diesen Vertrag schloss? Um abzusichern, dass mich dieses neue Nationalratsamt nicht korrumpiert, dass ich nicht überheblich werde, dass ich die Welt der politischen Oberschicht nicht als Norm ansehe, dass ich mir täglich bewusst bleibe, dass es Menschen in unserem Land gibt, denen es finanziell nicht so gut geht wir mir, Menschen, die materielle Not leiden.
Um es vorweg zu nehmen: Ich habe den Vertrag nie gebrochen. Nach drei Legislaturen trat ich zwar aus dem Nationalrat zurück, dies hatte aber nichts mit dem „Surprise“ zu tun. Oder vielleicht doch.
Ein Vorsatz mit Wirkung
Mein Surprise-Vertrag nahm eine unerwartet spannende Dynamik an. Nicht nur für mich selber, sondern auch für mein persönliches Umfeld. Verwandte und Freunde können inzwischen nicht mehr an einem Surprise-Verkäufer vorbei gehen, ohne dass sie nicht an mich denken. Sie fühlen sich dazu gedrängt, das Magazin zu kaufen. Oftmals mit einer kleinen Message per Handy an mich.
Mit der Zeit ergab dieses Ritual auch direkte menschliche Kontakte mit Surprise-Verkäuferinnen und -Verkäufern in Zürich und Bern. Und manche Begegnung mit ihnen bereicherte mich mehr als viele andere menschliche Begegnungen. Beispiel: Einer von ihnen sagte mir eines Tages, er kenne einen meiner Söhne und er müsse mir einfach sagen, dass ich einen wunderbaren Sohn habe. Wer sonst sagt mir so etwas mitten im Strassenverkehr?
Suche nach Ausreden
Vor ein paar Wochen machte ich mich auf den Weg zu einem Grossverteiler in der Nähe meines Wohnortes, um ein Küchenutensil zu kaufen.Von weitem erblickte ich vor dem Geschäft eine Surprise-Verkäuferin, nennen wir sie Ramona, mit lächelndem Gesicht. Wie immer in einer solchen Situation, kramte ich leicht widerwillig die sechs Franken aus dem Geldbeutel und streckte sie Ramona hin.
Wer nämlich glaubt, ich hätte diese vielen Surprise-Käufe immer spontan mit Freuden gemacht, irrt. Trotz aller Überzeugung kostete es mich jedes Mal Überwindung, den Kauf durchzuziehen und ich suche oft nach Ausreden, um das Magazin nicht kaufen zu müssen. Ramona strahlte mich aber an, als ob sie der glücklichste Mensch der Welt sei. Ich kaufte das Magazin und betrat erleichtert den Laden.
Weihnachtsglitzerwelt schon im November
Doch dem Eingang war – Anfang November – ein Zelt mit einer gigantischen Weihnachtswelt vorgebaut worden. Wer das Geschäft betreten wollte, musste sich zuerst durch tausende von Weihnachtskugeln, Glitzersternen, Krippenfiguren oder glänzendem Packpapier bewegen. Dekoration, Lichter, Kerzen, das volle Programm.
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Instinktiv verspürte ich den Wunsch, den Menschen im Raum zu sagen, dass diese Glitzerwelt im November, der Reichtum der Güter eigentlich nichts mit Weihnachten zu tun habe.
Ramona und die Hirten
Die Weihnachtsbotschaft ist nämlich das Gegenteil, sie ist sehr simpel: Das Kind in der Krippe wurde bewusst nicht als König geboren. Nicht mit der glitzernden Krone, nicht in einem Palast, sondern in einfachsten Verhältnissen bei den Hirten, Working Poors, welche nicht einmal von einer Sozialhilfe unterstützt wurden. Menschen, denen es finanziell nicht so gut ging wie dem Durchschnitt, Menschen die materielle Not litten.
Die Hirten waren Ramona. Bei Ramona ist die Weihnachtsgeschichte geschehen, Ramone, die Frau, welche an diesem Novembertag kaum jemand beachtete.
Was das nun mit meinem Rücktritt zu tun hat? Ich habe den Nationalrat verlassen, weil ich mich in Zukunft mehr für Ramonas einsetzen will. Und wer weiss: Vielleicht war es ebendieser Surprise-Vertrag, der mir den Wunsch nach einem neuen Lebensabschnitt näher brachte.