Anne Garrels, Reporterin des öffentlichen US-Radiosenders NPR, war eine der profiliertesten journalistischen Stimmen Amerikas. Nun ist die Russland-Kennerin im Alter von 71 Jahren gestorben.
Ann Garrels starb am 21. September 2022 bei sich zu Hause an Lungenkrebs. «Ich bezahle natürlich für meine Sünden; ich war Raucherin», hatte sie sechs Jahre früher im Vorfeld einer fünfstündigen Operation einer Freundin gegenüber verraten: «Du sitzt in Bagdad und sagst, ‘Es gibt hier nichts, was mir Vergnügen bereitet ausser einer Zigarette’, und du gönnst dir dieses lächerliche Vergnügen.» Mehr mochte sie, die ursprünglich Medizin hatte studieren wollen, dazu nicht sagen: «Es ist die Realität.» Es war jene Wirklichkeit, die sie als Journalistin ein Leben lang getreu wiedergeben wollte, obwohl das in Amerika nicht immer auf Verständnis stiess.
Annie, erzählt eine frühere Kollegin bei NPR, habe sie am 24. Februar gefühlte fünf Minuten nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine angerufen und sie wissen lassen, sie wolle dorthin gehen, um zu berichten. Sie habe das kaum glauben können, denn damals habe Anne Garrels, inzwischen noch schwerer an Lungenkrebs erkrankt, kaum noch 45 Kilogramm gewogen. Ihr zu widersprechen, habe sie nicht gewagt. Doch zum Glück hätten die Vorgesetzten beim Radiosender ihr Veto eingelegt, was Annie verstanden habe.
Studium in Harvard
Die 71-Jährige blieb trotzdem nicht untätig. Für eine Hilfsorganisation sammelte sie Geld für medizinisches Gerät, um Verwundeten in der Ukraine helfen zu können. Gemäss letztem Wissenstand ihrer Kollegin Ann Cooper kam so eine Million Dollar zusammen. Wie andere war auch Anne Garrels schockiert über Wladimir Putins Aggression, denn Russland hatte sie fasziniert, seit sie 1972 an der Harvard-Universität ein Russisch-Studium abgeschlossen hatte und später Moskau-Korrespondentin des nationalen Fernsehsenders ABC geworden war. Doch ihre Berichte über den oft schwierigen Alltag im Lande missfielen den Aufpassern im Kreml und sie wurde 1982 des Landes verwiesen: «Ich fand mich in einer politischen Wildnis gefangen, wo es keine Regeln gab.»
1988 wechselte Anne Garrels vom Fernsehen zum Radio, obwohl sie bei NPR drei Viertel weniger verdiente als bei ABC – ein Novum, das den meisten Kolleginnen und Kollegen damals verdächtig vorkam: «Was ist los mit ihr?». Sie aber bereute den Wechsel nie: «Ich war unglaublich glücklich.» Garrels, erneut willkommen, blieb zehn Jahre lang als Korrespondentin in Moskau und zog danach mit ihrem Mann Vint Lawrence, einem früheren CIA-Agenten und späteren Karikaturisten, von Washington DC nach Norfolk (Connecticut).
Basis Chelyabinsk
Garrelsd berichtete weiterhin für NPR und reiste bis 2010 jedes Jahr nach Russland, wo sie jeweils für drei, vier Monate in der Industriestadt Chelyabinsk am südlichen Rand des Urals lebte. Chelyabinsk, das sie per Zufall ausgewählt hatte, war ihre Basis, um das «wirkliche Russland» und dessen Bevölkerung näher kennen und besser verstehen zu lernen.
«Man muss sich bewusst sein, dass viele Russinnen und Russen total schockiert waren über das, was ihnen (nach dem Zerfall der Sowjetunion) geschah», sagte sie 2016 beim Erscheinen ihres Buches «Putin Country: A Journey into the Real Russia». Sie hätten wie die Leute im Westen leben wollen, aber hatten nicht genug zu essen: «Der Westen sagte ihnen ihrer Meinung nach, was und wie sie es zu tun hätten, aber das Ergebnis waren Oligarchen und Korruption. Die westliche Berichterstattung war ganz Moskau-zentriert, über die Opposition und jene, die Demokratie wollten. Diese Leute waren meine Freunde, aber die liberale Intelligenzija steht nicht für das Land.»
Trump wie Putin
In Chelyabinsk fand Anne Garrels, wie das Magazin «Publishers Weekly» berichtet, nicht nur ein Verlangen nach Sicherheit und Stabilität, sondern auch eine Sehnsucht nach Wiederherstellung des russischen Nationalstolzes und nationaler Grösse. Es waren Regungen, welche die Radiojournalistin 2016 auch in Amerika wahrnahm: «Sie fühlen sich bedroht und unsicher, die Welt um sie herum verändert sich und dann gibt es Demagogen wie Donald Trump.»
Trumps und Putins Rhetorik, forderte Garrels, müsse entschieden widersprochen werden: «Putin facht das russische Ressentiment und den Minderwertigkeitskomplex an, indem er davon spricht, wieder eine grosse Nation zu werden, und über ‘eine geistige Wiedergeburt’ im Gleichschritt mit der orthodoxen Kirche, während es auf dieser Seite des grossen Teichs eine Menge Überhöhung, Übertreibung und Hysterie gibt, was Russland betrifft. Das ist gefährlich.»
Kein «bang-bang»
Anne Garrels, mehrfach mit Journalismus-Preisen ausgezeichnet, berichtete für NPR nicht nur aus Moskau. Sie war 1989 während der Niederschlagung der Pro-Demokratie-Proteste in Peking, in den 1990er-Jahren während des Krieges in Tschetschenien und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan, wo sie mit der Nordallianz unterwegs war, die gegen die Taliban kämpfte. Ausserdem berichtete sie aus Zentralamerika, vom Balkan und aus Pakistan und dem Nahen Osten.
Garrels sah sich aber nicht als Kriegsberichterstatterin, sondern interessierte sich stets wie in Russland mehr für die von Konflikten betroffenen Menschen, für deren Geschichte und Kultur. Sie habe, sagte sie, den Krieg nie gesucht: «Nach 1991 haben die Kriege mich gefunden.» Was Auslandkorrespondenten «bang-bang», die tägliche Chronik des Kriegsgeschehens, zu nennen pflegten, liess sie eher kalt.
Mutig in Bagdad
Trotzdem war es der Irak-Krieg, der sie 2003 landesweit bekannt machte. Unter 16 amerikanischen Kolleginnen und Kollegen war Anne Garrels die einzige Rundfunkreporterin, die in Bagdad geblieben war, als am 20. März jenes Jahres bei Kriegsausbruch die ersten Bomben auf Bagdad fielen – im Rahmen einer Operation, die das US-Militär «Shock and Awe» nannte. Alle grossen US-Fernsehgesellschaften einschliesslich CNN hatten zuvor ihre Korrespondentinnen und Korrespondenten abgezogen – aus Furcht, Saddam Hussein könnte sie als Geiseln nehmen.
Anne Garrels teilte diese Furcht nur bedingt und erinnerte sich später, sie sei jeweils nachts von der Arbeit viel zu erschöpft gewesen, um noch Angst zu haben: «Ich schlief wie ein Baby, während die Bomben detonierten.» Sie habe sich aber davor gefürchtet, eine Geschichte nicht so gut erzählen zu können, wie sie das wollte: «Das Schreiben fällt mir schwer; es ist ein mühsamer Prozess.»
Nackt im Hotelzimmer
Für Garrels war stets klar gewesen, dass sie in ihrem Hotel in der irakischen Hauptstadt bleiben würde: «Mein Bauchgefühl sagte mir, dass mir nichts passieren konnte.» Auch hatte sie in einem Iraker namens Amer einen äusserst kompetenten Fixer, der sie verlässlich durch das Labyrinth des Alltags eines Landes im Krieg lotste. Amer und ihrem Mann Vin ist denn auch das Buch gewidmet, das sie noch 2003 über ihre Erfahrungen in Bagdad und an Orten wie Falluja schrieb.
Das Werk trägt den Titel «Naked in Bagdad» – eine Anspielung auf den Umstand, dass sie in ihrem Zimmer im Hotel «Palestine» nackt zu arbeiten pflegte, um im Falle eines unerwünschten Besuchs von Aufpassern des Informationsministeriums oder von Agenten des Geheimdienstes kurz um Zeit bitten zu können, sich anzuziehen respektive ihr Satellitentelefon und ihre Unterlagen zu verstecken, bevor sie konfisziert wurden.
Unbeugsame Berichterstatterin
Anne Garrels hatte im Hotelzimmer kein Fernsehen und las keine Zeitungen. Ihre Vorgesetzten bei NPR jedoch hatten unmittelbaren Zugang zu allen Medien und fragten bei ihr nach, ob sie in einem Fall nicht zu negativ über die Schleifung einer Statue Saddam Husseins durch US- Marineinfanteristen auf einem Platz in Bagdad berichtet habe. Garrels hatte Einheimische zitiert, die sagten, die Ankunft amerikanischer Truppen im Irak sei eine Demütigung, und korrekt prophezeiten, die Invasoren würden bald auf Widerstand stossen.
Doch sie hatte recht, ihren Bericht nicht wie von der Zentrale vorgeschlagen revidieren zu wollen. Denn eine Einsatzkritik der US-Armee kam später zum Schluss, dass der ganze Vorfall auf dem Firdos Platz von den Marineinfanteristen praktisch inszeniert worden war und die jubelnden Irakerinnen und Iraker Statisten gewesen waren – eine Realität, welche die dramatischen Fernsehbilder aus Bagdad und die positiven Kommentare in Amerika nicht adäquat widerspiegeln konnten.
Aufschlussreiche Fussnoten
Unter den 16 Journalistinnen und Journalisten, die im März 2003 in Bagdad geblieben waren, befand sich auch Anthony Shadid, Nahost-Korrespondent der «Washington Post», den Garrels ausserordentlich schätzte und der später das viel beachtete Buch «Night Draws Near» schrieb, welches auf 424 Seiten darlegte, weshalb die amerikanische Intervention im Irak zum Scheitern verurteilt war: «Er war der richtige Mann am richtigen Ort.»
Was Shadid, der 2012 während des Bürgerkriegs in Syrien ums Leben kam, einst vor Studenten der University of Wisconsin über sein Metier gesagt hatte, trifft auch auf Anne Garrels zu: «Der beste Journalismus beschäftigt sich manchmal mit Fussnoten – wenn du klein schreibst, um Grosses zu sagen.» Es ist eine Arbeitstechnik, die der «New York Times» zufolge im Fall des Nahost-Korrespondenten darin bestand, «eine Menge aussagenkräftiger Details zu sammeln, um lyrisch über einfache Leute zu berichten, die einem Konflikt nicht entrinnen können.» Auch Anne Garrels arbeitete so.
Quellen: NPR, New York Times, Washington Post, Publishers Weekly, Wikipedia