Sie ist die aufregendste Musikerin, die radikalste, kompromissloseste und faszinierendste: Patricia Kopatchinskaja, die nicht nur mit ihrer Geige das Publikum verführt, sondern auch mit der Art, wie sie ihre Programme gestaltet. Alte Musik oder ganz fremde Klänge, «neue Musik», die auf so manches Publikum abschreckend wirkt … Wenn Patricia Kopatchinskaja sich darum kümmert, funktioniert’s.
So auch in Salzburg, wo Patricia Kopatchinskaja gleich drei ihrer aussergewöhnlichen Konzerte gegeben hat. Oder beim Lucerne Festival, wo das diesjährige Motto «verrückt» geradezu auf Patricia Kopatchinskaja zugeschnitten zu sein scheint. «Verrückt» – im Sinne von «etwas zur Seite gerückt», ver-rückt, weg vom sogenannt «Normalen».
Aufrüttelndes zu später Stunde
Dabei könnte man gerade in Salzburg auf falsche Gedanken kommen, wenn ihre Konzerte auch im Rahmen der «Ouverture Spirituelle» in der prächtigen Kollegienkirche aufgeführt werden. Eine Kirche, die einst vom berühmten Barockarchitekten Fischer von Erlach erbaut wurde und heute zum Unesco-Welterbe zählt. Beschaulich klingt es jedenfalls nicht. Stattdessen hat Patricia Kopatchinskaja an drei Abenden drei verschiedene Programme zu eher bedrohlichen Themen zusammengestellt: «La Lontananza nostalgica utopica futura» von Luigi Nono, «dies irae» mit Klängen zwischen Mittelalter und Gegenwart, und «Pierrot Lunaire» von Arnold Schönberg.
Zu später Stunde, mit Beginn um 22 Uhr, strömt das Publikum in die Kirche, die Bänke sind restlos besetzt. In «La Lontananza» sind es nur zwei Personen, die fremde, einsame Klänge in den Raum schicken: Patricia Kopatchinskaja auf der Geige und der Berner Komponist André Richard vom elektronischen Mischpult aus. Es entspinnt sich ein Dialog, in dem Töne der Geige vermischt werden mit vorproduzierten elektronischen Klängen, während Kopatchinskaja mit ihrer Geige von immer wieder anderen Orten innerhalb des Kirchenraums darauf reagiert. Eine konzertante Wanderung zwischen Planbarem und Unerwartetem. Dazu gehören auch Alltagsgeräusche, Gesprächsfetzen, das Quietschen einer Tür oder laute Schritte. Irritierend ist das und faszinierend. Wie ein Spinngewebe verdichten sich diese Klänge zu einem unsichtbaren Netz im ganzen Kirchenschiff. Die Wirkung ist fast hypnotisch. Dass fast anderthalb Stunden vergangen sind, spürt man kaum, wenn man mit den Tönen, die jetzt nur noch im Ohr nachklingen, die Kirche verlässt, den Schirm öffnet und in die schnürlverregnete Salzburger Nacht hinaustritt.
Dies irae – der Tag des Zorns
Anderntags treffen wir uns am Mittag im «Triangel», das ist sozusagen die Kantine der Festspiele, Treffpunkt für Künstler und Publikum gleichermassen. Patricia Kopatchinskaja hat gerade Probenpause. Am Abend wird – wieder in der Kollegienkirche, wieder um 22 Uhr – «dies irae» aufgeführt, ein Projekt Kopatchinskajas mit musikalischen Überlegungen zur Klimakrise bis hin zum drohenden Ende unserer Welt.
«Dies irae», der Tag des Zorns. Ein grosses Thema, eine echte Herausforderung. «Ja, das ist es», sagt sie und schiebt den Teller mit dem Rest der Palatschinken zur Seite, nimmt einen Schluck Kaffee und fährt fort: «Ich bin in der glücklichen Lage, jetzt die interessantesten Dinge meines Lebens an den besten Orten machen zu dürfen. Hier in Salzburg zeige ich das radikalste, das mir eingefallen ist. Besonders ‘dies irae’ ist ein äusserst persönlicher Einsatz, der nicht nur Musikalisches beinhaltet, sondern vor allem auch eine ‘menschliche’ Botschaft in sich trägt. Ich sage nicht ‘politisch’, weil die Umwelt uns alle als Menschen etwas angeht. Der ganze Planet ist bedroht, unabhängig von unseren Überzeugungen oder unserer Herkunft. Wissenschaftler informieren uns ständig, aber das genügt nicht. Die Politik ist zu langsam. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass auch wir Künstler uns damit auseinandersetzen und unsere Zeit auf der Bühne dafür nutzen, etwas wirklich Wichtiges zu sagen. Nicht einfach Brahms-Konzerte spielen. Das genügt nicht mehr. Musik hat eine aussergewöhnliche Kraft und die müssen wir einsetzen. Mit der Pandemie hat das nichts zu tun. Die ist nur eine kleine Station auf einem Weg, der uns in die Apokalypse führt. Wir müssen das in unsere Programme einbetten um es auch das Publikum spüren zu lassen und es zu sensibilisieren».
Traumwandlerische Un-Musik
Bei Luigi Nonos «Lontananza» am Vorabend sei dies durchaus gelungen, sage ich Patricia Kopatchinskaja. Wenn man offen sei, sich darauf einlasse, dann gehe es doch wie von selber, nachdem der erste Überraschungseffekt mal vorbei sei … «… dann wird man ein Teil von diesem Geschehen und diesem Klang», nimmt Kopatchinskaja den Faden auf. «Ich war innigst dankbar für das Vertrauen, das mir das Publikum entgegengebracht hat. Zu all diesen Leuten musste ich mit den Tönen von Luigi Nono sprechen. Mehr hatte ich nicht. Und die Leute haben es zugelassen. Unglaublich für so ein schwieriges Stück zu später Stunde. Es ist ja eine Un-Musik, man kann es gar nicht in Worte fassen … traumwandlerisch … Aber ich liebe dieses Stück und habe es auch schon öfters aufgeführt».
«Dies irae», das sie an diesem Tag für die Aufführung am zweiten Abend probt, ist mit grosser Besetzung. Es gibt verschiedene Streicher, Klavier, Orgel, Harfe und Schlaginstrumente, und es gibt den Chor von musicAeterna. «Das ist reines Glück!», strahlt Patricia Kopatchinskaja. «Teodor Currentzis hat sofort gesagt: ’mach dein Projekt, ich helfe dir, wir sind dabei’ … und der Chor ist absolut grossartig.» Allzu viel Probenzeit hatte sie nicht, aber es war für sie machbar. «Ich spiele mit Musikern, die ich schon kenne. Das sind meine Freunde und wir wissen, was wir wollen. Dann gibt es einen technischen Leiter, der alles organisiert, sonst wäre es unvorstellbar, das alles in zwei Tagen auf die Beine zu stellen. Es ist ein sehr kompliziertes Projekt.»
«Dies irae», das sind Musikstücke aus einem Zeitraum über 500 Jahre hinweg, von Heinrich Ignaz Franz Biber und John Dowland bis zu George Crumb, Galina Ustwolskaja und auch Patricia Kopatchinskaja, die ebenfalls ein Stück komponiert hat. Die Kollegienkirche scheint noch vollbesetzter zu sein als am Vorabend, falls das überhaupt möglich ist. Es entsteht ein Klangbild, das scheinbar nahtlos vom Barocken ins schrill Heutige übergeht, beklemmend und gleichzeitig sanft und einschmeichelnd, um dann brutal und hart zu werden mit Schlagwerkzeugen, die fast archaisch wirken. Dann die gregorianischen Gesänge, voller Trauer und zugleich Hoffnung. Man wird hypnotisiert und verlässt die Kollegienkirche dennoch hellwach voller Gedanken und Emotionen.
Von Festspiel zu Festspiel
Ist es eine Ehre, wenn man nach Salzburg zu den Festspielen eingeladen wird, frage ich Patricia Kopatchinskaja noch. «Das ist, als wenn man einen Priester fragt, wo für ihn die Messe am wichtigsten ist: in einem Gefängnis, in einem Spital oder in einer grossen Kathedrale im Vatikan … Es geht nicht darum, wo man etwas macht. Es geht darum, wie sehr man daran glaubt, was man macht. Das heisst, man übernimmt jedes Mal eine grosse Verantwortung.»
Nach den Salzburger Festspielen steht nun das Lucerne Festival auf ihrer Agenda. «Bye-Bye Beethoven» wird sie dort sagen, auch wieder in einem inszenierten Konzert, begleitet vom «Lucerne Festival Contemporary Orchestra». Man darf gespannt sein.
Lucerne Festival
Bye-Bye Beethoven
4. September 2021