Ein Strang der in den sechziger Jahren aufgekommenen Minimal Art hat den programmatischen Minimalismus mit monochromen, oft quadratischen Flächen auf die Spitze getrieben. Er hat Werke von ikonischer Kraft und ungebrochener Faszination hervorgebracht.
Seit Kasimir Malewitsch 1915 in der legendären Ausstellung 0,10 (sprich: Null-Zehn) in Sankt Petersburg sein Schwarzes Quadrat präsentierte, wird die Kunst die Frage nicht mehr los, was das eigentlich ist, ein Bild. Malewitsch sagte über seinen Geniestreich: «Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.» Dieses seltsame Bild, in dem die suprematistische Avantgarde ein Fanal sah, verweigert alles: Darstellung, Form, Emotionalität, Stil, Lesbarkeit. Und doch spricht Malewitsch von «Empfindung».
Das kleine Gemälde hat in der Tat eine Aura. Sie wurde bei der ersten Präsentation zusätzlich religiös aufgeladen, indem das Schwarze Quadrat im Herrgottswinkel zuoberst in einer Ecke des Raums angebracht war, also an der Stelle, wo in russischen Häusern eine Ikone zu hängen pflegte. Die «Gegenstandslosigkeit» des Bildes schloss so an die Unfassbarkeit des Göttlichen an. Mit diesem Kontext und seiner Verweigerung aller Bildlichkeit war das Schwarze Quadrat eine künstlerische Setzung von gleichermassen avantgardistischer wie mystischer Qualität. Und es ist wohl vornehmlich dieses Schillern zwischen Provokation und Kontemplation, die das Bild im doppelten Sinn zu einer Ikone der künstlerischen Moderne macht.
Ohne ausdrücklich auf Malewitsch Bezug zu nehmen, folgt das Kunstmuseum Winterthur mit seiner Ausstellung «Radikal Monochrom» doch offensichtlich den Nachwirkungen, die das Schwarze Quadrat bis in die Gegenwartskunst hinein ausübt. Die Sammlung des Hauses gibt eine eindrucksvolle Kollektion von Werken her, die diesem Modell der extremen Reduktion zuzurechnen sind; sie ist mit ausgewählten Leihgaben zu einem elektrisierenden Ensemble ergänzt.
Viele der Arbeiten sind (annähernd oder genau) Quadrate und zeigen – wie das Urbild von 1915 – monochrome Flächen. Wie unterschiedlich dieses Muster umgesetzt werden kann, ist im Kunstmuseum Winterthur eindrücklich zu erleben. Zwei kapitale Stücke aus der Sammlung bilden in intimer Zwiesprache einen Höhepunkt dieser eminenten Parade radikaler monochromer Bildfindungen, und zwar in Weiss.
Da ist zum einen Robert Rymans «Capitol (II)». Steht man dicht davor, so wird einem fast schwindlig, weil der Blick an der weissen Bildfläche nirgends Halt findet. Dass der Farbauftrag nicht völlig homogen ist, spürt man mehr, als dass man es sieht. Die Spuren der Pinselführung sind an der Schwelle des Wahrnehmbaren. Untergründig vibriert die weisse Fläche, man glaubt eine durchscheinende Struktur zu bemerken und ist doch nie sicher, ob man sich nicht vielleicht doch täuscht.
Ryman ist ein Forscher. Der Maler und sein Publikum nehmen teil an einem Experiment, bei dem die Grenzen der Reduktion ausgelotet werden: Was kann bei der Gestaltung eines Bildes zum Extrem getrieben oder ganz weggelassen werden, ohne ihm seine Qualität als Kunstgegenstand zu entziehen? Mit der auffälligen Wandbefestigung unterstreicht «Capitol (II)» seine Eigenschaft, ein Objekt im Museum zu sein. An diesem Ort setzt es sich einer Aufmerksamkeit aus, wie es sie in dieser Eindringlichkeit vielleicht nur im Museum gibt. Und es verwickelt die Betrachter in einen Vorgang des Sehens, der das Werk und sie selbst umgreift.
Nahe gegenüber im gleichen Raum das scheinbar ähnliche und doch ganz anders geartete Bild: Agnes Martins «Untitled No. 8» von 1988. Hat man je ein Werk von ihr gesehen, erkennt man die Urheberin auch hier sofort. Die 2004 verstorbene Agnes Martin teilt mit Robert Ryman die Haltung des Forschens an den bildnerischen Valenzen der Leere und der Monotonie. Auch bei ihr ist das ähnlich grosse Quadrat (183 x 183 cm) eine weisse Fläche (Gesso und Acrylfarbe), die jedoch um Nuancen weniger homogen erscheint: da ein Hauch von Gelb, dort eine Ahnung von Grau.
Vor allem aber ist da Agnes Martins Markenzeichen: eine über dem homogen-monochromen Farbfeld liegende Struktur, hier in Form einer horizontalen Lineatur, bei der sich schmale graue Bänder mit Bleistiftlinien wechseln. «Untitled No. 8» evoziert die erwartungsvolle Leere des unbeschriebenen Blattes. Die fein austarierte Komposition kommt aus der Tiefe des Sichsammelns und ist umhüllt von einer Aura der Kostbarkeit.
Zwei weisse Bilder im stillen Vis-à-vis: das erste eine These, herausfordernd und inspirierend, Ausdruck der Lust am Disput wie auch der Suche nach Erkenntnis und des Mutes zum Wagnis; das zweite ein Kultgegenstand, gesammelt und heiter, Ergebnis lebenslangen Strebens nach Vollkommenheit.
Für «Radikal Monochrom» kann man sich keine besseren Ausstellungsräume vorstellen als den Gigon-Guyer-Anbau des Kunstmuseums Winterthur. Vor dreissig Jahren als Provisorium errichtet, bieten die neun Säle mit ihrer kraftvollen Reduktion auf die Essenz des Raums den Wechselausstellungen des Hauses eine Atmosphäre der Konzentration in wunderschönem Licht. Gerade die jetzige Schau profitiert von diesem einmaligen Ambiente, das den strahlend monochromen Arbeiten Raum gibt, um mit grossen, in lebendiger Helle ruhenden Wänden zu interagieren.
Bei Marcia Hafif sind die monochromen quadratischen Farbtafeln eigentliche Energiezentren, deren Präsenz den Raum förmlich ausfüllt. Da ist das grösste ihrer drei Bilder mit seinem tiefen leuchtenden Nachtblau, dann das kleine Format, dessen dunkles Rot eine ruhige Kraft verströmt, und schliesslich das braune Quadrat, dessen Goldton eine in sich gekehrte Noblesse verrät. Hier ist mit Farben, die Geschichten erzählen und Emotionen anklingen lassen, ein neues Element in die an Malewitsch anschliessende Kunst aufgenommen. Und tatsächlich braucht es die radikale Reduktion der bildnerischen Mittel, um die Essenz der Farbe in solcher Konzentration zur Geltung zu bringen.
Marcia Hafif zählt zu den wichtigsten amerikanischen Malerinnen der jüngsten Zeit. Zusammen mit dem in den USA tätigen Schweizer Olivier Mosset (*1944) und dem Amerikaner Joseph Marioni (1943–2024), die beide ebenfalls prominent in der Winterthurer Ausstellung vertreten sind, gehörte sie in den siebziger und achtziger Jahren zur «Radical Painting Group». Einen bedeutenden Auftritt hat auch der aus Winterthur stammende, ebenfalls nach Amerika emigrierte Rudolf de Crignis (1948–2006). Bei ihm wie auch etwa bei James Bishop (USA, 1927–2021) ergeben Farbschichten, die sich durchscheinend überlagern, oder ein fliessender Farbauftrag zusätzliche Gestaltungselemente mit komplexen Wirkungen.
«Radikal Monochrom» gibt Einblick in eine der wichtigen, stark von der amerikanischen Szene geprägten Kunstströmungen der letzten fünfzig Jahre. Diese hat eine Vielzahl ikonischer Werke hervorgebracht, deren Faszination ungebrochen ist. In Winterthur ist das Radical Painting, das einen bedeutenden Strang der Minimal Art bildet, in einem qualitativ herausragenden Ensemble zu erleben.
Dezemberausstellung: Fokus 2024
Gleichzeitig mit «Radikal Monochrom» präsentiert das Kunstmuseum Winterthur (ebenfalls im Gigon-Guyer-Anbau) seine alle zwei Jahre stattfindende Werkschau. Gezeigt werden neue Arbeiten von Künstlerinnen aus der Region. Die Ausstellung setzt mit ihrer Opulenz und Buntheit einen reizvollen Kontrast zum gleich nebenan zelebrierten Minimalismus. Herausgehoben seien die spektakuläre 3D-Effekte erzeugenden Lentikular-Prints von computergenerierten Phantasmen, mit denen Olga Titus (*1977) das Publikum verzaubert. Schon fast wieder minimalistisch muten die von Esther Mathis (*1985) gebauten Wabenstrukturen aus Aluminiumfolien an: ephemere Gebilde von poetischer Verspieltheit und formaler Strenge. Ein Wagnis ist Stefanie Kägi (*1987) mit ihrem wandfüllenden, digital erzeugten Werk «Im unruhigen Summen der Flügel» eingegangen. Sie konnte nicht wissen, ob ihr für übliche Bildgrössen entwickeltes Verfahren auch im Monumentalformat funktionieren würde. Nun ist das temporäre Werk zum eindrucksvollen visuellen Signet der Schau geworden.
Beide Ausstellungen sind im Kunst Museum Winterthur beim Stadthaus bis 5. Januar 2025 zu sehen.